Cevdet und seine Soehne
Grippe hat er. Also
wünschen wir ihm gute Besserung, dann fragt er sich gleich, ob es nicht
dahingeht mit ihm! So, dann sehen wir uns mal die Dossiers an!« Er setzte sich
und griff nach dem vor Muhittin liegenden Dossier mit den Gedichten.
Als Muhittin die fleischigen Finger
des Mannes auf dem Dossier sah, dachte er: »Dem bin ich auf den Leim gegangen!«
Aber gleich fasste er sich wieder. »Nein, ich gehe keinem auf den Leim!« Er
dachte an jenen Abend in der Kneipe zurück. »Damals hat er nach einem harmlosen
älteren Herrn ausgesehen. Dabei ist er ein Teufel!« Ihm kam seine Mutter in den
Sinn, seine Schulkameraden. »Nie werde ich in die Rolle des verführten Opfers
schlüpfen! Ich bin immer selber der Verführer, selber der Teufel! Da drinnen
stehen die Gedichte meiner Opfer. Nur hat jetzt er seine Hand darauf …«
Mahir Altaylı schlug das
Dossier auf und sah das obenauf liegende Gedicht. Muhittin blickte ihm
aufmerksam ins Gesicht, aber der Mann war nun mal Lehrer und ließ sich so leicht
nichts anmerken. Mahir Altaylı ging zum nächsten Gedicht über. Muhittin
hatte angekreuzt, was veröffentlicht werden
sollte. Mahir Altaylı hatte wieder jenen Blick wie damals in der Kneipe:
»Ich kann lesen, was in dir vorgeht!« Plötzlich fragte er: »Wer ist denn dieser
Barbaros?«
»Ein Soldat! Wird immer
nationalistischer! Ich habe ihm geraten, nur seinen Vornamen anzugeben.«
»Ah, du kennst ihn also? Ein
nationalistischer Soldat? Liest er unsere Zeitschrift? Den würden wir gerne
kennenlernen!«
Muhittin hatte das Gefühl, er würde
sich etwas vergeben. »Er ist noch sehr jung!«
»Jung sind wir alle!« sagte Mahir
Altaylı lächelnd, aber er hatte schon gemerkt, dass Muhittin nicht gleich nachgeben
würde. »Eilt ja auch gar nicht! Die türkische Bewegung hat jahrelang geduldig
jeglichem Druck widerstanden, vielen hinterhältigen Komplotten. Sie versteht es
zu warten.« Er ging kurz die anderen Gedichte durch. »Den Namen da kenne ich
schon … Und den da auch.« Er klappte das Dossier wieder zu, hatte aber
Muhittins Gedicht zuvor beiseite gelegt. »Nun, was hast du denn geschrieben,
Baudelaire?«
Serhat lachte los und auch einer der
beiden Jungen, während der andere Muhittin mehr Achtung entgegenbrachte. Danach
entstand ein verlegenes Schweigen, weil Muhittin nicht mitgelacht hatte.
»Genug gescherzt!« sagte Mahir
Altaylı. »So, unseren Kaffee haben wir getrunken, jetzt werden wir mal
…«
Da ging die Tür auf, und Mahir
Altaylıs Tochter trat ein. Ihr Vater schwieg, während sie die Kaffeetassen
abräumte. Keiner sah das Mädchen an, aber jeder dachte vermutlich an sie,
obwohl sie nicht besonders hübsch war. Da ritt Muhittin auf einmal der Teufel,
und er starrte das Mädchen unverhohlen, geradezu herausfordernd an. Er war
stolz, dass er sich das traute. »Was sie wohl jetzt denken über mich? Furchtbar
werden sie mich finden! Zu zivilisiert oder zu frech, obwohl das ja für sie
aufs gleiche hinausläuft … Für sie? Wer soll das sein? Ich gehöre doch auch zu
ihnen! Ich muss endlich aufhören mit meinen elenden Zweifeln und
Vernünfteleien! Und muss glauben! Und das werde ich auch und diesen dummen
Verstand zum Schweigen bringen! Worüber reden sie jetzt? Heute fängt der
Ramadan an. Was wohl Refık jetzt macht? Mahir Altaylı erklärt zum
hunderstenmal, was Rassenpsychologie ist. Dass die rassische Abstammung nicht
allein durch physische Merkmale bestimmt wird, sondern auch geschichtliche
Einflüsse eine Rolle spielen. Die anderen hören zu. Das brauche ich nicht, ich
habe längst alles begriffen. Der Ramadan fängt also heute an. Was wohl
Refık … Nein, ich höre lieber doch zu! Hm, wie schreibe ich diese
Gedichte … Diese Gedichte? … Nein, was ich hier mache, ist richtig! Das
Gedicht von Barbaros wird im Januar abgedruckt … Ich muss zuhören! Zuhören
und mitmachen! Was sagt er gerade? Dass zum Beispiel die Spanier dieses
übermäßig Sinnliche und Aristokratische an sich haben, bedeutet
rassenpsychologisch … Und was ist dann mit den Türken? Wir schreiben uns Mut
und Tapferkeit zu … Die Ausländer denken eher an Gastfreundschaft, Kebab und
… Genug!«
47
ÜBERDRUSS
Ömer lag in seinem Hotel im Stadtviertel
Ulus auf dem Bett und starrte zur Decke hinauf. Er wusste nicht, was er
unternehmen sollte. Es war Samstag, drei Uhr nachmittags, und da er unrasiert
war, konnte er zum Friseur gehen. Weil ihm langweilig war und er sich gerne mit
einem vernünftigen Menschen unterhalten
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