Cevdet und seine Soehne
Freiheit? Der Staat schon mal nicht!
Die Kaufleute sind auch nicht sehr darauf aus. Die Großgrundbesitzer hassen die
Freiheit. Und die Bauern haben noch nie was davon gehört. Wen haben wir noch?
Die Arbeiter? Tja, und ich! Ha! Ich vielleicht als einziger!« An der Wand
hingen Bilder von großen Staatsmännern. Sie sahen ihn streng, aber auch
liebevoll an, als wollten sie sagen: »Was willst du eigentlich, junger Mann?
Wir haben schon alles im Griff. Wir wissen, was gut und richtig ist, und das
tun wir dann auch. Einen Sterblichen wie dich braucht so etwas nicht zu
kümmern. Finsternis, Aufklärung, Freiheit, wie kommst du nur auf das alles?
Vergiss nicht, dass du ein Untertan bist, und beuge dich uns!« Refık
musste schmunzeln. Es hatte auch etwas Angenehmes, sich zu beugen. So konnte
man jegliche Schuld auf die Geschichte abwälzen, auf seine Umwelt, und einfach
dahinleben. Und wenn einem mal nicht ganz geheuer dabei war, so konnte man
hinausposaunen: »Ich kenne alle Sünden und stehe zu jeder einzelnen davon! Ich
weiß ja, dass ich ein Untertan bin!« Ihm fiel wieder Hölderlin ein. Dann
dachte er plötzlich: »Nein, das stimmt doch alles nicht!« und merkte, dass er
sich wie so oft mit seinen Gedanken im Kreise drehte. Er setzte sich, um daraus
auszubrechen. Die Dinge auf dem Schreibtisch, die Stifte, und Papiere,
Zigaretten und Aschenbecher, Bücher und Dossiers, die er beim Eintreten noch so
bewundernd angesehen hatte, kamen ihm nun lächerlich vor, sein dort liegendes
eigenes Dossier nicht weniger. Ihm fiel wieder ein, dass es ja bald
veröffentlicht würde, und da waren auf einmal alle Gedanken wie
weggewischt. »Wenn es herauskommt, interessiert sich vielleicht jemand dafür!«
Plötzlich war er selbst bereit, alle Schuld auf Geschichte und Umwelt
abzuwälzen.
46
UNTER NATIONALISTEN
»Der verrennt sich völlig! Er behauptet, man
müsse bei sechzig Millionen Menschen den Schädel vermessen, um herauszukriegen,
ob sie richtige Türken sind!« sagte Mahir Altaylı.
Muhittin dachte: »Bei genau neunundfünfzig
Millionen zweihundertfünfzigtausend!« Er hatte noch die Zahlen der
»Detaillierten Erhebung zum Türkentum« im Kopf. Aber er merkte, dass er sich
schon wieder mit Nichtigkeiten abgab.
»Er verrennt sich, er wird einfach
alt! Wisst ihr, was er gesagt hat? Dass Atatürk zwar blond und blauäugig war,
aber einen sehr guten Schädel hatte. Bei İsmet dagegen sei der Schädel
eine Katastrophe. Mit so etwas gibt er sich ab!«
Muhittin wunderte sich, dass er
darauf noch nie geachtet hatte.
»İsmets Schädel sei früher
vielleicht in Ordnung gewesen, aber nun habe er so komische Einbuchtungen. Das
hat er mir in allen Einzelheiten erzählt. Erst habe ich ihm zugehört, schon aus
Achtung vor seinem Alter und seiner Erfahrung, aber dann habe ich dagegengeredet.
Ich habe ihm gesagt, dass sich Rassismus und Nationalismus nicht von der
Schädelform herleiten können. Ich habe ihm von der Rassenpsychologie erzählt
und dass wir uns eher darauf stützen, aber er hat mir gar nicht zugehört.
Leuten, die wie ich dächten, mangele es schlicht und einfach an Erfahrung,
behauptet er.«
»Er macht uns also schlecht?« fragte
Serhat Güloğlu.
»Unsere Zeitschrift gefällt ihm auch
nicht. Er hat behauptet, dass wir die türkische Abstammung mit falschen
Kriterien verwässern. Ich habe ihm gesagt, wenn das so ist, dann können wir
nicht mehr zusammenarbeiten.«
»Genau, das wäre sonst ein fauler
Kompromiss!« rief Serhat, aber niemand ging darauf ein.
»Er ist darauf ganz herablassend
geworden, wie es alte Leute oft sind, die sich furchtbar viel auf ihre
Erfahrung einbilden, und er hat gesagt, wir hätten doch sowieso nie richtig
dazugehört. Ich meine, seine Erfahrung und sein ganzer Dienst am türkischen
Nationalismus, alles in Ehren, aber das ist doch eine Frechheit! Ötüken ist
momentan die einzige Zeitschrift, die den türkischen Nationalismus vor der Welt
vertritt. Was meint er also damit, wir hätten nie richtig dazugehört?«
»Vielleicht, dass er selbst nicht
zur türkischen Bewegung gehört?« warf einer der jungen Mitarbeiter vorsichtig
ein.
Mahir Altaylı sah ihn an, als
hätte er einen toten Gegenstand vor sich. Er nickt sinnierend und verkündete
dann in prophetischem Ton: »Unsere Wege trennen sich nun. Mit ihm und den
Seinen kann es keine Zusammenarbeit mehr geben. Das bedeutet aber nicht, dass
die türkische Bewegung sich gespalten hätte. Im Gegenteil wird die türkische
Bewegung auch
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