Cevdet und seine Soehne
–«
»Na sagen Sie mal, Muhtar, sind Sie
auf Diät?«
»Wie bitte?«
»Sie verschmähen ja das Buffet!
Kommen Sie mit, tun wir uns ein wenig gütlich!«
Muhtar sah den schnauzbärtigen
Parteiinspekteur İhsan an, als würde er ihn gar nicht erkennen. »Gütlich
tun? Ich habe gar keinen Hunger!«
»Ach was, wenn Sie das Buffet sehen,
bekommen Sie gleich Appetit! Gehen wir los, sonst ist nichts mehr übrig. Sagen
Sie mal, was halten Sie eigentlich von diesen Bulgaren?«
»Ich denke …« fing Muhtar an und
schämte sich auf dem Weg zum Buffet, sich darauf nicht vorbereitet zu haben.
»Das mit dieser Neutralität«, sagte
İhsan, »das ist doch keine Politik bei denen, sondern reine Notwendigkeit.
Denken Sie nur mal, der König ist für die Engländer, die
Königin für die Italiener, die Regierung für die Deutschen und das Volk für die
Russen. Möchten Sie Hühnchen? Außerdem schielen die auf Makedonien und auf die
Dobrudscha …«
Muhtar dachte: »Das kümmert mich
alles nicht.« Er beneidete İhsan um sein Wissen, aber er sagte sich auch:
»Das ist einer von denen! Warum erzählt er mir das alles? Oh, Şükrü Saraçoğlu grüßt mich!« Muhtar verneigte sich
leicht vor dem Außenminister. »Hm, wie war meine Verbeugung? Doch gemäßigt,
oder? Nein, ich habe mich zu sehr vorgebeugt. Ach, was habe ich hier verloren?
Ich bin doch ein reiner Kasper hier! Dieses ganze Essen … Das Volk leidet
Hunger, und die da stopfen sich voll. Diese fürchterlichen dicken Frauen mit
ihren nackten Armen … Was die alles in sich hineinschlingen! Die Frauen und
Töchter von Sklaven … Meine Tochter wird einmal nicht so! Ich muss nach
Hause. Was Nazli wohl macht? Und Hatice ist nicht zu Hause. Wie spät ist es?
Was redet der noch?«
»Wenn wir die Dobrudscha-Türken in
die Heimat rufen …«
Muhtar verneigte sich wieder vor
jemandem, und es überkam ihn dabei ein leichter Schauer. »Ich bin ein Nichts
neben denen!« Die Augen des Mannes, den er gerade gegrüßt hatte, zuckten unter
den weit herabhängenden Lidern.
»Haben Sie Ihre Tochter schon
verheiratet, Muhtar?« fragte Kerim Naci.
»Verlobt habe ich sie …«
»Das wusste ich schon.«
»Warum fragen Sie dann?« gab Muhtar
zurück und erschrak über sich selbst. »Mein Gott, was habe ich da gesagt? Was
habe ich da zu Kerim Naci gesagt?«
»Ihnen geht es wohl nicht ganz gut?«
versetzte Kerim Naci.
Muhtar wollte etwas sagen und dachte auch, er sei dabei,
das zu tun, aber dann merkte er, dass er nur die Lippen bewegte.
»Ja, Muhtar geht es wirklich nicht
ganz gut«, sagte İhsan beschwichtigend und zog Kerim Naci mit sich fort.
Muhtar blieb allein stehen und
starrte auf seinen Teller. »Ein Hühnchenschlegel! Und den wollte ich essen?« Am
liebsten hätte er den Teller fortgeschleudert, aber dann stellte er ihn doch
bloß irgendwo diskret ab. »Trotz all dieser Gemeinheiten um mich herum hätte
ich also fast diesen Hühnchenschlegel gegessen. Was bin ich doch für ein
armseliger Mensch. Hühnchenschlegel …« Er zog sich vom Buffet zurück und ging
langsam und beinahe schwankend zwischen den Menschen hindurch, die einander
anlachten, sich mit vollem Mund zunickten, ihn erkannten und ihn zum Zeichen
ihrer Zuneigung auch anlächelten. »Hühnchenschlegel hätte ich fast gegessen.
Was bin ich nur für ein Mensch? Ein armseliger Wicht. Und Kerim Naci bin ich
über den Mund gefahren. Jetzt werden sich alle über mich lustig machen. ›Der
arme Muhtar hat sie nicht mehr alle … Und seine Tochter wird er auch nicht
los …‹ Meine Tochter! Was machen die zu Hause? Ich muss heim. Wie konnte
ich bloß meine Tochter mit diesem Kerl allein lassen? Habe ich denn gar keine
Moral mehr? Warum habe ich da nicht aufgepasst? Ja, mir geht es wirklich nicht
ganz gut, Kerim Naci hat schon recht. Was habe ich bloß zu ihm gesagt? Und
Refık Saydam lacht immer noch! In der Zeitung habe ich gesehen, dass
İsmet Paşa auch lacht. Worüber eigentlich? Was gibt es denn zu lachen?
Bestimmt hat Ekrem getratscht. Das hier hat mich nicht getröstet! Keiner kann
mich trösten! Ich habe nur meine Tochter! Ach, was für ein Leben! Ich hätte es
machen sollen wie Refet. Ich hätte auch dieses ganze Heuchlerdasein aufgeben,
viel Geld verdienen und mich dann vergnügen sollen. Dann hätte ich jetzt auch
ein Landhaus in Keçiören und würde mir einen offenen Kamin einbauen lassen und
dann rauchend auf das Knistern des Feuers lauschen …«
49
FAMILIE, MORAL ETC.
Ömer saß gegenüber dem
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