Cevdet und seine Soehne
mir die anderen zuwider sind! Soll ich morgen kommen?«
»Wie du willst!«
Sie hörten, wie Muhtar die Haustür
aufschloss und die Treppe heraufkam.
»Er kommt! Ich weiß, dass dein Vater
mich nicht mag. Keiner mag mich! Und die haben ja auch recht. Ich bin nämlich
zugleich ein Chef und ein –«
Die Tür ging auf. Sie hörten Muhtar
hüsteln und dann seinen Mantel ausziehen.
»Papa, bist du das?«
»Ja, ich bin’s!«
»Schon zurück?«
Muhtar zog draußen im Korridor erst
noch seine Pantoffeln an, dann trat er ins Zimmer.
Ömer stand noch immer. Als er Muhtar
ungehalten auf die Weinflasche blicken sah, sagte er: »Guten Abend! Wir haben
gerade gegessen!«
»Und getrunken, was?«
Nazli fühlte sich nun auch bemüßigt
aufzustehen. »Wir haben eine deiner Flaschen genommen, die auf dem
Fliegenschrank stehen!«
»Auf dem Fliegenschrank … Meine
Flaschen …« murmelte Muhtar. Als er seine Tochter auf sich zukommen sah,
schwante ihm nichts Gutes.
»Was ist denn los, Papa?«
»Mir geht es nicht besonders. Wird zumindest
behauptet …« sagte Muhtar. »Soso, Wein … Vom Fliegenschrank …« Und
plötzlich brüllte er los: »Junger Mann, ich verbiete Ihnen, um diese Zeit im
Haus eines unbescholtenen Mädchens zu sitzen und Wein zu trinken!«
»Wie bitte?«
»Ich verbiete es, verstanden?«
»Papa, was hast du denn?«
»Ich wollte sowieso gehen!« sagte
Ömer.
»Nein, du bleibst da! Ich habe noch
ein Wörtchen mit dir zu reden!« Er packte seine Tochter, die ihm in die Arme
fallen wollte. »Was ist denn mit dir los? Du hast getrunken! Und jetzt weinst
du auch noch! Leg dich bitte augenblicklich schlafen!«
»Papa, bitte!« flehte Nazli, dann
weinte sie ungeniert los.
»Das gefällt mir gar nicht!
Überhaupt nicht! Geh sofort in dein Zimmer und leg dich hin! Ein Muhtar weiß immer
noch, was sich gehört! Gott sei Dank habe ich noch Anstand im Leib! Geh auf
dein Zimmer, sonst muss ich als Vater zum erstenmal unangenehm werden!«
Weinend verließ Nazli den Raum.
»Ich kann auch gehen, wenn Sie
wollen!« sagte Ömer, aber als er Muhtars Gesicht sah, setzte er sich lieber.
»Bleib noch!« sagte Muhtar. »Dir bin
ich nicht mal böse jetzt. Bleib noch ein wenig sitzen, ich habe mit dir zu
reden. Als allererstes: Wenn meine unverheiratete Tochter um Mitternacht, na
ja, um neun Uhr abends, allein mit einem Mann hier sitzt und Alkohol trinkt und
sich das nach den allgemeinen Anstandsregeln nicht schickt, dann bin in erster
Linie ich schuld daran! Jawohl, ich mache mir Vorwürfe, weil ich meine Tochter
vernachlässigt habe und vor lauter eigenen Sorgen nicht sehe, was sich direkt
vor meiner Nase abspielt. Und deshalb kann ich dir nicht böse sein. Eine
Teilschuld trifft dich aber auch. Ich weiß, du bist ihr Verlobter, ihr werdet
bald heiraten, aber trotzdem finde ich dieses Verhalten nicht richtig!« Er
deutete auf die Tür. »Natürlich ist auch sie ein wenig schuld, aber sie ist
eben ein junges Mädchen!«
Ömer schämte sich nicht im
geringsten, empfand keinerlei Schuldbewusstsein, sondern nur wieder jenes
Gefühl, das ihn seit jeher in solchen Situationen überkam, nämlich dass er
grundsätzlich recht hatte und der Überlegene war. Um aus der Widrigkeit
herauszukommen und Muhtar gleichsam auch etwas zu gönnen, sagte er: »Sie haben
recht!«
»Ja, das habe ich, ich habe recht.
Selbst du merkst es, aber bis ich es gemerkt habe, hat es lange gedauert.« Über
sein Gesicht ging ein Leuchten. »Ich habe recht! Es freut mich, dass du das
sagst, mein Junge, denn ich bin ziemlich missgestimmt. Lass mich dir erst mal
was erzählen. Ich war heute im Ankara Palas, wie du vielleicht weißt, wegen
Köse Iwanow Und stell dir vor, mitten bei diesem Essen oder Fest oder Empfang
oder was immer das sein sollte, da habe ich mich doch klammheimlich
davongemacht und bin nach Hause gefahren. Und zwar deswegen, weil mir dort
alles so hässlich und gemein vorkam und ich gemerkt habe, dass ich zum
unmoralischen Menschen verkomme.«
»Aber ich bitte Sie!« sagte Ömer,
wiederum gönnerhaft.
Muhtar schien das gar nicht
wahrzunehmen. »Jawohl, zum unmoralischen Menschen! Mein ganzes Leben kommt mir
plötzlich sinnlos und leer vor. Es erscheint mir voller Gemeinheit und
Heuchelei. Dabei habe ich stets für meine Überzeugungen gekämpft. Ob in der
Hochschule, als Landrat oder als Gouverneur, immer war ich voller Glauben an
die gute Sache, bin mutig für sie eingetreten, habe Ehre und Stolz bewahrt oder
dies doch zumindest
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