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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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Neunundzwanzig! Wie alt ich bin, hat
mich der Alte gefragt! Dabei weiß er alles! In vier Monaten bin ich dreißig!«
Der Dampfer legte an, und die Fahrgäste strömten heraus. »Nun gut, dann bringe
ich mich eben um!« Fast war er erleichtert. »Das war doch immer mein Ausweg.
Und nach dem Tod ist nichts!« Das Zugangstor ging auf, und Muhittin ging
langsam auf das Schiff zu. Der kühle Wind zerzauste ihm die Haare. Im Inneren
des Dampfers war es sehr warm. »Dabei gäbe es noch soviel zu tun. Was soll ich
machen? Wie komme ich aus dem Schlamassel wieder heraus? In der nächsten Nummer
von Altınışık könnte ich zum Beispiel schreiben: Die Intrigen von
Mahir Altalı und
Gıyasettin Kağan! Nein, zu billig! Vielleicht eher so: Biologismus
und Psychologismus kratzen gemeinsam am Türkentum! Aber was mache ich dann mit
so vielen Feinden?« Er sah zum Fenster hinaus. »Ich muss alles noch einmal
überdenken. Mahir und Gıyasettin verstehen sich nicht gut, stehen aber in
Kontakt. Mahir reitet auf der Geschichte herum und kritisiert die
Schädelvermesserei. Warum wohl? Ist er etwa ein verkappter Georgier oder
Tscherkesse? Warum hat er dann das mit dem Namen Haydar weitererzählt? Und
warum hat er mir die Zeitschrift übertragen? Was soll ich bloß tun? Am besten
wieder Gedichte schreiben. Echte Gedichte. Sowieso hassen mich jetzt alle!« Er
ging an die frische Luft und beschloss einen Tee zu trinken. Während er darum
anstand, beruhigte er sich ein wenig. Dann trank er in kleinen Schlucken seinen
Tee. In der Ferne sah er die Anlegestelle von Beşiktaş. »Ich werfe
mich einfach zwischen Kai und Dampfer!« Schon als Kind hatte ihn der Gedanke
erschreckt, beim Ein- oder Aussteigen an der Kaimauer zerquetscht zu werden.
»Dann stehe ich in allen Zeitungen! Und die Kritiker schreiben über mein Buch!
In seinen Gedichten herrschte eine Todesstimmung vor, wird es heißen. Und ich
habe dann Wort gehalten! Genau, das ist am besten!« Erregt sah er sich um.
»Noch eine Minute!« Ein großgewachsener, schlanker Mann neben ihm rauchte eine
Zigarette. »Dieses Gesicht werde ich also nie mehr vergessen! Aber hätte ich
nicht einen Brief hinterlassen sollen? So einen richtig herzzerreißenden
Abschiedsbrief? Aber wem? Refık? Nein. Was soll ich machen? Ach, diese
verdammte Intelligenz!« Fieberhaft dachte er über eine Lösung nach. »Alles
bloß, weil ich zu intelligent bin! Schuld trifft mich keine! Ach was, es
braucht keinen Abschiedsbrief! Ein Dichter, der Wort hält!« Der Dampfer
manövrierte an den Kai heran. »Genug geschwätzt! Zehn, neun … Bei zwei
springe ich!« Jetzt brachte er schon die Zahlen durcheinander! Ein Tau wurde
ans Ufer geworfen. »Jetzt!« Er stieß sich vom Dampfer ab … »Hopp! 0 Gott!«
Erschrocken setzte er auf der Kaimauer auf.
    »Na, junger Mann, warum denn so
eilig, Sie brechen sich ja den Hals!«
    Muhittin warf dem Angestellten einen
strengen Blick zu. »Nicht ohne Brief!« dachte er.

60
  TAGEBUCH III
    Dienstag, 26. September 1939
    Warum ich in all
dem Aufruhr beschlossen habe, wieder Tagebuch zu führen? Wohl wegen des
Gefühls, dass die Zeit so schnell vergeht! Beim Verpacken meiner Bücher und
Papiere bin ich wieder auf das Heft gestoßen. In vier Tagen ziehen Perihan und
ich nach Cihangir um. Ich sitze in der Bibliothek, meinem Arbeitsraum, in dem
wir früher immer Poker spielten, und horche auf die Geräusche im Haus. Ich habe
das Heft noch einmal durchgesehen; der letzte Eintrag ist eineinhalb Jahre alt,
und es ist darin von Kemah die Rede, von Herrn Rudolph und meinen Projekten.
Mit Hilfe des Landwirtschaftsministeriums ist aus dem Unsinn, den ich damals
verzapft habe, ein zu Recht so gut wie ungelesenes Buch geworden. Ich würde
jetzt gerne so vieles auf einmal schreiben, aber ich muss der Reihe nach
vorgehen. Ich gehe erst einmal zum Abendessen hinunter, und dann schreibe ich
weiter.
    Eineinhalb Stunden später! Es ist
jetzt halb zehn. Wir haben gegessen. Köfte mit Bohnen. Jedesmal wenn ich mich
ans Tagebuchschreiben mache, bin ich voller Eifer, und dann lasse ich es doch
wieder sein, weil ich nicht weiß, was ich noch schreiben soll. In einem Schrank
habe ich die Aufzeichnungen meines Vaters gefunden: »Ein halbes Jahrhundert
Geschäftsleben«. Daneben noch kleinere Texte und Notizen.
    Wir müssen alle einmal sterben.
    Ich habe das gerade Geschriebene
noch einmal durchgelesen. Zwischen dem, was dasteht, und meinen Gefühlen ist
ein himmelweiter Unterschied.
    Mittwoch, 27.

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