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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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sich hin. »Ach ja, ich sollte doch von Opa ein Bild malen!«
Er rasierte sich, wie jeden Morgen, um nicht wie ein heruntergekommener
Bohemien auszusehen. »Habe ich nicht ein bisschen was von Goya an mir?« dachte
er vor dem Spiegel. »Das ist ja ganz neu, dieser Goyafimmel!« schalt er sich
selbst und wusch sich das Gesicht. Er ging in den Korridor und hob die Zeitung
auf, die der Briefträger unter der Tür durchgeschoben hatte. Es lag auch ein
Umschlag daneben: eine Einladung zu einer Ausstellung. »Von Gencay! Hat der
Kerl doch tatsächlich eine Einladung drucken lassen! So oft haben wir über
diese Ausstellung gesprochen, und trotzdem schickt er mir das Ding!« Schon
wollte er das als kleinbürgerlich abtun, aber dazu mochte er Gencay doch zu
sehr. Er setzte sich mit der Zeitung in eine Ecke.
    Es war alles andere als erbaulich,
was er dort las: »Große Trauerfeier: Fünftausend vorwiegend junge Trauergäste
schwören Eid auf Unabhängigkeit … 12. Dezember 1970.« Auf dem Foto klammerte
sich eine Frau im schwarzen Tscharschaf an einen Sarg. »Die Mutter von Hüseyin Aslantaş!« dachte er. Unter
dem Foto stand: »Die verzweifelte Mutter schluchzt am Sarg ihres Sonnes!« Ihn
schauderte: »Selbst die ernstesten Dinge werden in diesem Film mit …« Sein
Blick blieb an einem anderen Artikel hängen: »Batur warnt Sunay!« Aufgeregt las
er die Meldung: »Der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, General Muhsin Batur, habe
den Staatspräsidenten schon bei einem Besuch am 24. November darauf
hingewiesen, dass die türkischen Streitkräfte auf allen Ebenen von großer Sorge
erfasst seien …« Er ließ die Zeitung sinken. »Hatte Ziya also recht!« Am
Vortag war der Cousin seines Vaters, der pensionierte Oberst Ziya, bei Nigân zu
Besuch gewesen und hatte kurz bei Ahmet vorbeigesehen. In seiner
hintergründigen Art hatte er zu verstehen gegeben, dass die Armee bald etwas
unternehmen werde. Geflissentlich hatte er dann noch Worte wie »Leibgarde« und
»Kriegsakademie« fallenlassen, und an seiner Miene war abzulesen, die Armee tue
eben ihre Pflicht und lasse sich nicht auf die Füße treten. Ahmet las weiter:
»Eine Kopie von Baturs Schreiben sei auch an Generalstabschef Tağmaç übermittelt worden …
Im Verlauf der Unterredung habe sich abgezeichnet, dass Tağmaç Generals Baturs Ansichten im wesentlichen
teile.«
    »Den hat er also herumgekriegt! Dann gibt es einen Putsch …« Er rief
sich in Erinnerung, was er zu dem Thema schon gelesen hatte. »Kann das wirklich
sein?« Erregt stand er auf. »Und wenn ja?« Er ging ein wenig auf und ab, dann
setzte er sich wieder und las die Meldung noch einmal aufmerksam durch. Sie war
in sehr vorsichtigem Ton geschrieben. »Wer hat das überhaupt der Presse
zugespielt? Und was soll das heißen: von großer Sorge erfasst? Worum sorgen sie
sich genau? Wer raubt ihnen den Schlaf? Nun, sagen wir mal, sie machen sich
Gedanken über das Vaterland, über die gesellschaftlichen Probleme!« Ferner
stand noch da: »Präsident Sunay hat diese Woche auch Ministerpräsident Demirel
von dem Schreiben unterrichtet.« Er stand wieder auf. »Was der dann wohl
gemacht hat?« Um seine Nervosität zu verringern, ging er auf die Terrasse
hinaus, lehnte sich an die Brüstung und sah auf Nişantaşı
hinunter.
    Samstags waren dort so viele Leute
unterwegs, dass der Verkehr zeitweise zum Erliegen kam. In der Mitte der Straße
stand fuchtelnd ein Polizist und blies in seine Trillerpfeife. Einem Obus war
der Stromabnehmer aus der Oberleitung gesprungen und hing auf die Straße herab.
Der Fahrer stieg aus, und zwei Gymnasiasten in Schuluniform schauten ihm zu. Auf
dem gegenüberliegenden Gehsteig verkauften Zigeuner Blumen. Von der Haltestelle
der Sammeltaxis hörte man die dünne Stimme des Mannes, der dort für einen
geregelten Ablauf sorgte. Alle drei Schuhputzer waren zugleich beschäftigt; ein
Kunde musste sogar warten. Eine elegante Dame kam von ihren Samstagseinkäufen
zurück. Vor dem Schaufenster einer Boutique stand ein junges Mädchen im
Minirock. Ein Brotverkäufer, der weißeres Brot feilbot, als dies nach der
Gemeindeverordnung erlaubt war, sah dem Obusfahrer bei seinen Bemühungen zu.
Neben ihm stand ein Losverkäufer. Eine Frau mit Hund ging an ihnen vorbei. Vor
der İş-Bank
schubsten sich zwei Grundschüler. Nevzat, der Pförtner des Işıkçı
Apartmanı, ging zum Krämer gegenüber. Mit dem Verkehr ging es wieder etwas
voran. An den Losverkäufer an der anderen Ecke trat eine Frau mit

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