Cevdet und seine Soehne
keine neuen Ansichten!« sagte er.
»Stimmt, so ähnlich sprach schon
mein Vater! Neu sind die natürlich nicht! Ich kann Ihnen das am Beispiel
unseres alten Konaks veranschaulichen. Ich weiß nicht, ob ich es erzählt habe,
aber wir haben dort neue –«
»Sie haben es erzählt!« erwiderte
Refık ungehalten.
»Ach so, habe ich? Ihr Vater ist
auch ein schönes Beispiel! Was tun also? Lassen Sie ab von diesem Groll, der
trägt keine Früchte! Der Mensch …«
Refık erwog kurz, ob er Sait
Nedim erzählen sollte, dass er Rousseau und Defoe neu übersetzen und
herausbringen wollte, aber dann erblickte er Ayşe, die neben ihrer Mutter
stand.
»Was redest du da wieder?« sagte
Güler. »Hat er Sie am Wickel? Er erzählt wohl wieder von unserem Vater, was?«
»Jaja«, murmelte Refık und
lachte verlegen. »Ah, da sind sie ja!« sagte er dann, deutete entschuldigend in
die Richtung, wo seine Mutter saß, und ging dorthin.
»Setz dich zu uns! Wo hast du denn
gesteckt?« fragte Nigân und musste dann selber darüber schmunzeln, wie sie aus
reiner Gewohnheit immer gleich einen Vorwurf formulierte.
Refık fragte Ayşe, ob sie ihm
böse sei, wenn er schon gehe.
»Ach woher!« entgegnete sie.
Nigân sagte noch: »Sobald Perihan
gesund ist, besucht ihr uns aber! Und bringt Melek mit!«, dann wandte sie sich
der neben ihr sitzenden Leyla zu und berichtete von ihrer Enkeln.
Ayşe begleitete Refık zur
Tür. Refık umarmte sie gerührt und ging hinaus. Er sog die Stille ein. Die
Gartenglocke klingelte. Über Nişantaşı stand ein wolkenloser
blauer Himmel. Der Wind fuhr Refık in die Mantelschöße. »Wie ein sternenloser
Sommerhimmel!« dachte Refık. Auf den Baustellenzaun nebenan waren Plakate
geklebt worden. An einer Mauer hing ein Schild: »Zum Luftschutzraum!« Es ging
auf sieben Uhr zu. »Perihan wird staunen! Wie es ihr wohl geht?« Es waren nicht
viele Leute unterwegs, nur hier und da hastete jemand vermummt dahin.
Refık ging zur Trambahnhaltestelle und sah dabei im Erdgeschoss eines
neuen Gebäudes einen Imbissstand, der auch am Sonntag abend noch geöffnet war.
»Ich könnte Perihan etwas mitbringen! Ob sie wohl Appetit hat? Oder etwas für
Melek! Ach Melek! Und bald kommt ein zweites Kind! Was soll ich nur machen? Ich
muss unbedingt umsetzen, was ich mir vorgenommen habe, aber … Rousseau …
Ich wollte das auch Sait Nedim erzählen. Ein schrecklicher Kerl! Und Güler …«
Er stellte sich an die Haltestelle, etwas verunsichert, dass dort niemand außer
ihm wartete. »Nichts wie weg aus diesem schmutzigen Viertel! Meine ganze
Kindheit und Jugend habe ich hier verbracht! Aber irgendwie mag ich doch die
Bäume hier, den Wind …« Er fand ein Taxi und stieg ein. »Was soll ich zu
Hause machen? Zuerst mal eine Suppe für Perihan. Dann mache ich der Kleinen was
zu essen und setze mich danach an den Schreibtisch. Ja, und dann?« Er ärgerte
sich. »Nicht einen einzigen vernünftigen Gedanken habe ich im
Kopf! Hätte ich doch ein Zehntel vom Verstand Schopenhauers! Aber habe ich das
nicht? Die kulturelle Bewegung! Die Übersetzungen! Ich liebe das Leben! Was
wohl der Taxifahrer von mir denkt? Ich muss etwas machen, das auch im Leben
dieses Mannes irgendeine Spur hinterlässt, und sei sie noch so klein!
Zugegeben, mein Dorfprojekt war utopisch. Und Marx! Der hat mir auch nicht
gebracht, was ich gesucht habe. Seine Gedanken wirken zwar schön klar, aber was
ich konkret tun soll, hat sich mir nicht erschlossen. Bei der Lektüre habe ich
fortwährend Schuldgefühle entwickelt … Ja, als erstes muss ich meine
Fabrikanteile loswerden und den Verlag gründen! Und danach gute Übersetzungen
anfertigen. Jeder soll diese Bücher lesen … Was wohl Ömer macht? Und Muhtar?«
Er gähnte. »Was für ein Heidenlärm dort geherrscht hat! Wie habe ich das nur
ausgehalten all die Jahre? Vielleicht hat Ömer ja recht und es geht nichts über
die Stille der Natur … Gesunde, frische Luft! Ja, das brauche ich! Ich kann
ja am Sonntag immer zum Fußball gehen! Aber für Perihan ist –« Der Fahrer
fragte ihn, wo genau in Cihangir er hinwollte, und Refık beschrieb ihm den
Weg. Wie immer auf dem Nachhauseweg ließ er sich durch den Kopf gehen, was er
schon gemacht hatte und was er noch vorhatte. »Heute morgen habe ich ein wenig
gelesen, und dann habe ich diese Verlobung hinter mich gebracht. Ayşe wird
bald heiraten. Kinder … Mein zweites Kind … Hoffentlich wird es ein Junge.
Und der soll nur ja nicht werden wie ich, sondern
Weitere Kostenlose Bücher