Cevdet und seine Soehne
eifrig: »Das stammt von
Hippokrates! Die Kunst ist lang, und kurz ist unser Leben. Bei Goethe kommt es
auch vor.«
»Ja, und du solltest es dieser Tage auch beherzigen!«
»Ich kann mir das noch so oft vorsagen,
und es wird mich doch nicht beruhigen! Gut, dass Hasan gekommen ist! In der
Türkei malen ist ja nichts anderes, als wenn du in einem Land, in dem die Leute
sich schreiend unterhalten, einfach stumm bleibst.«
»Ach komm, und vorhin hast du noch
gesagt, dass die ganze Außenwelt nur für deine Bilder da ist!«
»Das habe ich gesagt, ja?« erwiderte
Ahmet verblüfft. Er musste schmunzeln. »Entschuldige schon, ich bin eben
Künstler, wir widersprechen uns andauernd!«
»Habe ich schon begriffen! Und dass
du jetzt wieder kalauern willst, auch!«
»Ja, was soll ich denn tun?« rief
Ahmet in künstlichem Zorn.
»Nicht soviel an dich selber denken! Sei mir nicht
böse, aber du übertreibst es schon ein wenig!«
»Ja, ich bin ein dreckiger Egoist!«
»Wenn du das so offen sagst oder
auch mit Witzchen verbrämst, dann meinst du wohl, es wäre weniger schlimm. Du
solltest dich ruhig davor fürchten, ein dreckiger Egoist zu sein. Und nicht
gleich an deinen Überzeugungen rütteln, sobald ein leiser Zweifel kommt.«
»Und sonst?«
»Sonst sollst du mich nicht so böse
anschauen.«
»Gehst du wirklich nach Österreich?«
»Jetzt gehe ich erst mal nach
Hause!« Sie sah auf die Uhr. »Oje, so spät schon. Da kann ich mich auf was
gefasst machen!« Sie stand auf.
»Bleib doch noch ein bisschen!«
»Nein, ich gehe jetzt!«
»Rauch noch eine, dann entspannst du
dich!« Er griff jedoch zum Schlüssel, als İlknur auf die Tür zuging.
Fieberhaft suchte er nach irgendeiner Anekdote, mit der er sie noch hätte
aufhalten können. Als er zur Türklinke griff, rutschte ihm heraus: »Was ist
denn dann der Sinn des Lebens?«
»Die Rettung des Vaterlands! Gut
also, dass Hasan zu dir gekommen ist!«
»Und das ist alles? Dafür leben
wir?«
»Ja! Nur dass ich gedacht hatte, du
meinst das jetzt ernst!«
»Du sagst ja selber, dass es ein
Scherz war!« Als İlknur das Gesicht verzog, fügte er verlegen hinzu:
»Natürlich meine ich es ernst. Du kennst mich doch. Aber es kommt mir doch
seltsam vor, dass alles auf diese Rettung hinauslaufen soll.«
»Tut es aber!« Eindringlich sah sie
auf die Tür, so dass Ahmet nichts übrigblieb, als sie zu öffnen.
»Aber dann haben wir doch gar keinen
eigenen Wert! Und sind nichts als Mittel zum Zweck! Dann bleibt uns doch gar
nichts mehr!«
»Keine Angst, dir bleibt noch genug,
und das weißt du auch. Mehr als genug bleibt dir. Deine Gedanken, deine Freude
an der Introspektion, am Begreifen, am Sorgenmachen … Ist das etwa nichts?«
»Doch, doch«, sagte Ahmet nickend.
Sie stiegen die Treppe hinab. Auf
der Etage Nigâns war es still. Als sie bei Osman vorbeikamen, vermeinte Ahmet
die klagende Stimme Nermins zu vernehmen. Bei Cemil ging es immer noch hoch
her. Irgend jemand sagte laut: »… den gesehen? Der ist ganz neu …« Auf den
anderen Etagen war nichts zu hören. Beim Hausmeister war das Licht schon
gelöscht. Ahmet merkte plötzlich, dass er auf Zehenspitzen ging. Als sie durch
die Haustür hinaustraten, fragte İlknur: »Friert dich nicht in dem
Pullover?«
Ahmet winkte nur mit männlicher
Geste ab und murmelte: »Ach was!«
Sie gingen los. Der Platz war
menschenleer. Vereinzelt fuhren noch Autos mit hoher Geschwindigkeit dahin,
aber niemand musste an der Kreuzung mehr warten. Im schaumigen Wasser, das aus
den Läden abgelaufen war und sich am Gehsteigrand unter Bäumen angesammelt
hatte, spiegelte sich das Licht von Werbetafeln und Neonröhren. Es waren kaum
Fußgänger unterwegs. Ein Mann mit einem Sack auf dem Rücken wühlte die
aufgereihten Mülltonnen durch. Im Schaufenster eines Kleidergeschäfts stand
barfuß ein Mann und schmückte einen Tannenbaum. Der Jeep vor der Polizeiwache
war verschwunden. Auf der Höhe der Moschee kamen sie an einem elegant
gekleideten Herrn mit Schirm vorbei. Als sie in Teşvikiye anlangten, schielte
Ahmet zu İlknur hinüber. »Was sie wohl denkt? Bald wird sie schlafen. Aber
zuvor kriegt sie es wegen mir noch mit ihren Eltern zu tun!« Daran wollte er
gar nicht denken. Er gähnte. Wie als kleiner Junge schon las er nacheinander
die Namen der Apartmenthäuser und auch noch alles andere, was ihm unter die
Augen kam: Restaurantnamen, an Laternen klebende Anzeigen von Beschneidern, die
Schrift auf einem Friseurladen, das Ladenschild
Weitere Kostenlose Bücher