Chalions Fluch
Toden verzählt?
Die Göttin lachte. Denke gründlich darüber nach …
Dann floss die gewaltige blaue Präsenz durch Cazaril hindurch aus der Welt hinaus, wie ein Fluss, der sich als Wasserfall donnernd eine Klippe hinunterstürzt. Das Herz strömte ihm über von der Schönheit triumphaler Musik, von der er wusste, dass er sich niemals an sie erinnern konnte, bevor er nicht in Ihr Reich zurückkehrte. Der große Riss schloss sich. Geheilt. Versiegelt.
Unvermittelt war alles vorüber.
Der Schlag, als sein Knie auf den steinernen Fußboden prallte, war Cazarils erste wiederkehrende Empfindung. Verzweifelt hielt er sich aufrecht, saß auf den Fersen, um das Schwert nicht weiter durch sein Fleisch zu reißen. Der Griff sowie eine Hand breit der glänzenden Klinge standen unmittelbar vor seinem Blick, der sich immer weiter herabsenkte. Die Waffe war direkt unter seinem Nabel, ein kleines Stück links davon, schräg nach oben durch seinen Leib getrieben worden. Die Spitze schien irgendwo rechts neben seiner Wirbelsäule auszutreten, oberhalb der Einstichstelle. Und jetzt kam der Schmerz. Als Cazaril seinen ersten, unsicheren Atemzug tat, bewegte der Schwertgriff sich ein wenig. Der Gestank von verbranntem Fleisch stach Cazaril in die Nase, vermischt mit einem himmlischen Duft wie von Frühlingsblumen. Er zitterte vor Schock und Kälte und bewegte sich wenig wie möglich.
Der Geruch nach versengtem Fleisch ging nicht nur von ihm aus. Dy Jironal lag vor ihm. Cazaril hatte schon Leichen gesehen, die von außen nach innen verbrannt waren – aber noch nie zuvor von innen nach außen. Haar und Kleidung des Toten qualmten noch; dann verschwand der Rauch, ohne dass der Leichnam Feuer gefangen hätte.
Cazarils Aufmerksamkeit wurde von einem Kieselstein angezogen, der neben seinem Knie auf dem Boden lag. Die Götter vermochten nicht einmal eine Feder anzuheben, doch er, der bloß ein Mensch war, konnte dieses uralte, unveränderliche Objekt in die Hand nehmen und dorthin bewegen, wohin es ihm beliebte. Ein getrocknetes Blatt lag in der Nähe, noch viel überwältigender als der Stein in seiner Komplexität. Die Materie ersann unendlich viele Gestalten und schuf eine Schönheit, die über das rein Stoffliche hinausging – Verstand und Seelen, die aus der Materie aufstiegen wie eine Melodie von einem Instrument … Materie war für die Götter etwas Wundersames. Materie konnte sich ihrer selbst ganz deutlich erinnern. Es war Cazaril ein Rätsel, wie er das so lange hatte übersehen können: Seine zitternde Hand war ebenso ein Wunder wie das erlesene Schwert, das in seinem Leib steckte, oder die Orangenbäume in den Kübeln, von denen einer umgekippt und zerbrochen war, oder der Gesang der Vögel, der mit dem Morgen seinen Anfang nahm, oder das kühle klare Wasser, oder das Licht der Morgensonne, das allmählich den Himmel erhellte …
Eine schwache Stimme erklang dicht neben ihm: »Lord Cazaril?«
Er blickte zur Seite und sah, dass dy Cembuer zu ihm gekrochen war.
»Was war das, Herr?« Dy Cembuer schien den Tränen nahe.
»Das waren Wunder.« Zu viele an einem Ort und zur selben Zeit. Cazaril war von Wundern schier ü berwältigt – wohin er auch blickte, sah er Wunder über Wunder.
Es war ein Fehler gewesen, zu sprechen, denn die Vibrationen ließen die Schmerzen in seinen Eingeweiden aufflammen. Immerhin konnte er sprechen. Offenbar hatte das Schwert nicht seine Lunge verletzt. Er fragte sich, wie sehr es wohl schmerzte, wenn er Blut husten müsste.
Also eine Bauchwunde. In drei Tagen werde ich wieder tot sein. Er nahm einen schwachen Fäkalgeruch wahr, durchsetzt mit dem Gestank von verkohlten Fleisch und dem Duft der Göttin. Nein, einen Augenblick! Der Tod verheißende Fäkalgeruch kam nicht von ihm – noch nicht.
Der baocische Hauptmann lag neben ihm, hatte die Arme um den Kopf geschlungen und weinte. Er schien unverletzt. O ja. Er war der nächste überlebende Zeuge. Die Göttin musste ihn berührt haben, als Sie herübergekommen war.
Cazaril riskierte einen weiteren Atemzug. »Was habt Ihr gesehen?«, fragte er dy Cembuer.
»Dieser Mann … war das dy Jironal?«
Cazaril nickte behutsam.
»Als er auf Euch eingestochen hat, gab es einen fürchterlichen Knall, und plötzlich stand er in blauen Flammen. Haben die Götter ihn niedergestreckt?«
»Nein, es war komplizierter …« Der Innenhof wirkte seltsam still. Cazaril wagte es, ein wenig den Kopf zu drehen. Etwa ein halbes Dutzend von dy Jironals
Weitere Kostenlose Bücher