Chalions Fluch
verschwenden nur wieder weitere Menschenleben auf diese Angelegenheit und reichen sich anschließend über den Toten erneut die Hände.«
»Eine traurige Sache«, sagte die Herzogin und kniff die Lippen zusammen. »Daraus kann nichts Gutes erwachsen. Nun, dy Palliar – habt Ihr auch gute Neuigkeiten für mich? Sagt mir, dass Oricos Königin ein Kind erwartet!«
Palli schüttelte bedauernd den Kopf. »Soweit ich weiß, nicht, Herrin.«
»Na gut, dann lasst uns zu Abend essen und nicht länger über Staatsgeschäfte reden. Davon bekomme ich nur graue Haare.«
Trotz des Weines waren Cazarils Muskeln beim Sitzen steif geworden. Als er sich nun aus dem Stuhl erheben wollte, fiel er beinahe vornüber. Palli packte ihn am Ellbogen und stützte ihn. Er runzelte die Stirn. Cazaril schüttelte kaum merklich den Kopf und entfernte sich, um sich zu waschen und umzukleiden. Und unbeobachtet seine Prellungen zu untersuchen.
Das Abendessen verlief in heiterer Atmosphäre. Die meisten Mitglieder des Haushalts waren zugegen. Dy Palliar war kein Kind von Traurigkeit – weder beim Essen noch bei der Unterhaltung. Mit seinen Geschichten fesselte er rasch die Aufmerksamkeit aller, von Prinz Teidez und Prinzessin Iselle angefangen bis hinab zum jüngsten Pagen. Ungeachtet des Weines hielt er in der hohen Gesellschaft seine Sinne beisammen und erzählte nur die lustigen Episoden, in denen er selbst eher als Unglücksrabe denn als Held auftrat. Er berichtete über ein nächtliches Scharmützel unter Cazarils Führung gegen die Sappeure der Roknari, die einen Stollen in Richtung der Festung getrieben hatten und nach der Unternehmung für einen Monat nichts Derartiges mehr wagten. Die Anwesenden musterten Cazaril daraufhin mit weit aufgerissenen Augen. Offensichtlich fiel es ihnen schwer, sich den zurückhaltenden, stillen Schreiber der Prinzessin vorzustellen, wie er über brennende Trümmer kletterte, einen Dolch in der Hand, grinsend unter dem Schmutz und der Asche. Cazaril musste sich eingestehen, dass er diese Blicke verabscheute. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht. Zweimal spielte Palli ihm den Ball zu und wollte ihn veranlassen, die Unterhaltung zu übernehmen, und zweimal lenkte Cazaril das Gespräch zu Palli zurück oder weiter zu dy Ferrej. Nachdem auch der zweite Versuch gescheitert war, versuchte Palli nicht länger, Cazaril aus der Reserve zu locken.
Es wurde sehr spät an diesem Abend, aber endlich kam die Stunde, die Cazaril zugleich herbeigesehnt und gefürchtet hatte. Die Gesellschaft ging für die Nacht auseinander, und Palli klopfte an die Tür von Cazarils Kammer. Dieser ließ ihn ein, schob seine Kleidertruhe gegen die Wand und legte ein Kissen für seinen Gast darauf. Er selbst setzte sich aufs Bett. Sowohl das Möbelstück wie auch Cazaril ächzten und knackten vernehmlich. Palli saß da und musterte ihn im dämmrigen Licht zweier Kerzen. Schließlich sprach er mit einer Direktheit, die nur allzu deutlich machte, was ihn beschäftigte:
»Ein Versehen, Caz? Glaubst du wirklich?«
Cazaril seufzte. »Ich hatte neunzehn Monate Zeit, darüber nachzudenken, Palli. Ich habe jede Möglichkeit wieder und wieder abgewogen wie ein misstrauischer Geldwechsler eine zweifelhafte Münze. Ich habe so lange darüber nachgedacht, bis ich es müde war, und dann habe ich mir gesagt: ›Es ist genug!‹ Es ist genug, Palli.«
Diesmal wischte Palli den Hinweis mit Bestimmtheit beiseite. »Glaubst du, die Roknari waren dafür verantwortlich? Um sich an dir zu rächen, haben sie dich verschwinden lassen und uns dann erzählt, du seist gestorben?«
»Das wäre eine Möglichkeit.« Hätte ich nicht selbst die Liste gesehen …
»Oder hat jemand dich mit Absicht von der Liste gestrichen?«, forschte Palli.
Martou de Jironal persönlich hatte die Liste zusammengestellt. »Zu diesem Schluss bin ich letztendlich gekommen.«
Palli stieß den Atem aus. »Wie niederträchtig! Ein schändlicher Verrat, nach allem, was wir durchgemacht haben. Verdammt, Cazaril! Wenn ich bei Hofe bin, werde ich Graf dy Jironal davon berichten. Er ist der mächtigste Herr in Chalion, das wissen die Götter! Gemeinsam können wir gewiss aufdecken …«
»Nein!« Erschrocken fuhr Cazaril von seinem Kissen auf. »Tu es nicht, Palli! Du darfst dy Jironal nicht einmal wissen lassen, dass es mich gibt! Rede nicht darüber, erwähne mich nicht! Wenn die Welt mich für tot hält – umso besser! Hätte ich das vorher gewusst, wäre ich in Ibra
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