Chalions Fluch
Autorität ihrer Großmutter war, gegen die sie anging, nicht die ihres Lehrers.
»Großmutter, es ist so heiß. Können wir nicht am Fluss schwimmen gehen, so wie Teidez?«
Da die Sommerhitze andauerte, hatte man die Nachmittagsausritte des Prinzen mit seinem Privatlehrer, seinen Reitknechten und den Pagen gegen nachmittägliche Schwimmausflüge zu einem geschützten Tümpel am Fluss oberhalb von Valenda eingetauscht. Denselben Ort hatten die überhitzten Bewohner der Burg schon damals besucht, als Cazaril hier Page gewesen war. Cazaril hatte höflich alle Einladungen ausgeschlagen, sich dieser Unternehmung anzuschließen, und seine Verpflichtungen gegenüber Iselle als Begründung angeführt. Der wahre Grund war allerdings, dass er sämtliche Schicksalsschläge zur Schau stellen musste, die sich als Narben in seine Haut eingegraben hatten, sobald er sich zum Schwimmen auszog. Und er legte keinen Wert darauf, diesen Teil seiner Vergangenheit näher zu erläutern. Noch immer fühlte er sich gedemütigt, wenn er an das Missverständnis im Badehaus zurückdachte.
»Ganz bestimmt nicht!« widersprach die Herzogin. »Das wäre unanständig!«
»Ich wollte nicht mit meinem Bruder schwimmen«, sagte Iselle. »Wir können unsere eigene Gruppe zusammenstellen, eine reine Damengruppe.« Sie wandte sich Cazaril zu. »Ihr habt gesagt, die Frauen aus der Burg sind schwimmen gegangen, als Ihr noch Page wart.«
»Das waren Dienstmädchen, Iselle«, meinte ihre Großmutter müde. »Einfache Leute. Das ist kein Zeitvertreib für dich.«
Iselle ließ sich auf den Stuhl zurücksinken – erhitzt, errötet und verstimmt. Betriz ersparte sich die unvorteilhafte Röte, hing stattdessen auf ihrem Platz und wirkte bleich und lustlos. Wie immer auf die Form bedacht, nahm die Herzogin ihren Löffel und begann zu essen.
Unvermittelt bemerkte Cazaril: »Aber Lady Iselle kann doch schwimmen, Hoheit, nicht wahr? Man hat es ihr doch sicher beigebracht, als sie jünger war?«
»Ganz sicher nicht«, erwiderte die Herzogin.
»Oh«, sagte Cazaril. »Wie unglücklich.« Er schaute sich am Tisch um. Königin Ista war bei dieser Mahlzeit nicht zugegen. Dies befreite Cazaril von der Sorge, das Thema könne ihre Besessenheit berühren, und so beschloss er, es zur Sprache zu bringen. »Das erinnert mich an eine schreckliche Tragödie …«
Die Augen der Herzogin wurden schmal. Sie schluckte den Köder nicht. Betriz hingegen sprang darauf an: »Was für eine Tragödie?«
»Es geschah, als ich für den Herzog von Guarida ritt, während eines Scharmützels mit dem Roknari-Fürsten Olus. Die Truppen der Roknari überquerten plündernd die Grenze, im Schutz der Dunkelheit und eines Sturms. Mir wurde befohlen, die Damen des Haushalts der dy Guarida an einen sicheren Ort zu bringen, bevor die Stadt eingekreist war. Kurz vor dem Morgengrauen, nachdem wir die halbe Nacht durchgeritten waren, überquerten wir einen Bach, der gerade Hochwasser führte. Ein Kammerfräulein der Herzogin wurde aus dem Sattel gespült, als ihr Pferd strauchelte, und das Wasser riss sie fort, zusammen mit dem Pagen, der sie retten wollte. Bis ich mein Pferd gewendet hatte, waren sie bereits beide außer Sicht … Wir fanden ihre Leichen am nächsten Morgen flussabwärts. Das Wasser war gar nicht mal so tief gewesen, aber die Frau geriet in Panik, weil sie nicht schwimmen konnte. Mit ein wenig Übung wäre sie womöglich mit dem Schrecken davongekommen, und drei Leben hätten gerettet werden können.«
»Drei Leben?«, fragte Iselle. »Das Fräulein, der Page …«
»Sie war schwanger.«
»Oh.«
Betretenes Schweigen breitete sich aus.
Die Herzogin rieb sich das Kinn und beäugte Cazaril. »Stimmt diese Geschichte, Kastellan?«
»Ja.« Cazaril seufzte. Der Körper war zerschrammt und zerschlagen gewesen, kalt, bläulich verfärbt und so träge wie Lehm unter seinen zupackenden Fingern. Die voll gesogene Kleidung der jungen Frau war schwer gewesen, aber nicht so schwer wie sein Herz. »Ich musste es ihrem Ehemann sagen.«
»Hu«, stieß dy Ferrej hervor. Er war der zuverlässigste Erzähler von Anekdoten in dieser Tischgesellschaft, unternahm aber keinen Versuch, diese Geschichte zu überbieten.
»Das war eine Erfahrung, die ich kein zweites Mal machen möchte«, fügte Cazaril hinzu.
Die Herzogin schnaubte und blickte in eine andere Richtung. Nach einer Weile sagte sie: »Meine Enkelin kann nicht nackt wie ein Aal in einem Fluss planschen.«
Iselle richtete sich auf:
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