Chalions Fluch
durchaus klar war und dass man kaum von Demenz ausgehen konnte. Sie sprach nur ein wenig in Rätseln. Zudem verstand er ohne Mühe, was sie sagen wollte – wäre sie tatsächlich verrückt gewesen, hätte ihm das schwerer fallen sollen. »Ich träume manchmal von meinen Eltern. Für einen kurzen Moment laufen sie umher und reden, als wären sie noch am Leben … Dann bedaure ich es immer, wenn ich wieder aufwache und sie ein weiteres Mal verliere.«
Ista nickte. »Falsche Träume können auf diese Weise traurig sein. Aber Wahrträume sind grausam. Mögen die Götter Euch vor ihren Wahrträumen bewahren, Cazaril.«
Cazaril runzelte die Stirn und legte den Kopf auf die Seite. »Alle meine Träume sind bloß ein wirres Durcheinander. Wenn ich aufwache, verfliegen sie wie Dunst.«
Ista beugte sich über ihre kahle Rose. Inzwischen breitete sie die goldenen, pulvrigen Staubgefäße, so fein wie Flusen von Seidengarn, inmitten des Kreises aus Blütenblättern in Fächerform aus. »Wahrträume lasten wie Blei auf dem Herzen und dem Leib. Genug Gewicht, um unsere Seelen im Leid zu ertränken. Wahrträume bestehen fort, wenn der Tag erwacht. Dennoch betrügen sie uns, so sicher wie ein jeder Mensch aus Fleisch und Blut leichtfertig hervorgespiene Versprechen wieder herunterschlucken kann, so wie ein Hund sein halb verdautes Fressen. Vertraut niemals auf Träume, Kastellan. Oder auf die Versprechen von Menschen.« Sie schaute von ihrer Blütenblattreihe auf und blickte plötzlich eindringlich.
Cazaril räusperte sich unbehaglich. »Nein, Herrin, das wäre närrisch. Aber es ist angenehm, gelegentlich meinen Vater wiederzusehen. Denn auf andere Weise werde ich ihm nie wieder begegnen.«
Sie schenkte ihm ein merkwürdiges, schiefes Lächeln. »Ihr habt keine Angst vor Euren Toten?«
»Nein, Herrin. Nicht in meinen Träumen.«
»Dann sind Eure Toten keine besonders Furcht erregenden Leute.«
»Die meisten nicht, Herrin«, pflichtete er bei.
Hoch oben an der Außenmauer des Bergfrieds schwang ein Fensterflügel weit auf, und Istas Gesellschafterin lehnte sich hinaus und schaute in den Garten. Der Anblick ihrer Herrin, die mit ihrem armseligen Höfling in ein friedliches Gespräch vertieft war, beruhigte sie augenscheinlich. Sie winkte und verschwand wieder.
Cazaril fragte sich, wie Ista ihre Zeit verbrachte. Sie stickte nicht, so viel war offensichtlich. Sie schien sich auch nicht besonders zu Büchern hingezogen zu fühlen, und sie beschäftigte keine eigenen Musikanten. Gelegentlich hatte Cazaril sie bei Gebeten beobachtet: In manchen Wochen verbrachte sie Stunden in der Ahnenhalle oder vor dem kleinen, tragbaren Altar, den sie in ihren Räumlichkeiten aufbewahrte. Mitunter – sehr viel seltener – ließ sie sich von ihren Zofen und von dy Ferrej zum Tempel unten in der Stadt begleiten, aber nie, wenn dort viel Betrieb herrschte. Zu anderen Zeiten jedoch verstrichen Wochen, in denen sie den Göttern offenbar nicht die geringste Beachtung schenkte.
»Findet Ihr viel Trost in Gebeten, Herrin?«, erkundigte er sich neugierig.
Sie sah ihn an, und ihr Lächeln wurde ein wenig schmaler. »Ich? Ich finde nirgendwo viel Trost. Die Götter haben sicher ihren Spott mit mir getrieben. Ich würde ihnen diese Gefälligkeit gern erwidern, aber sie halten mein Herz und meinen Atem als Geiseln, wie es ihnen beliebt. Meine Kinder sind Gefangene des Schicksals. Und das Schicksal spielt verrückt in Chalion.«
Zögernd meinte Cazaril: »Es gibt schlimmere Orte für eine Gefangenschaft als diesen sonnigen Bergfried, Herrin.«
Sie hob die Brauen und lehnte sich zurück. »O ja. Wart Ihr jemals im Zangre, in Cardegoss?«
»Ja, als junger Mann. Nicht in den letzten Jahren. Es war ein riesiges Labyrinth. Die halbe Zeit habe ich mich darin verlaufen.«
»Merkwürdig. Auch ich habe mich darin verloren … es spukt dort, müsst Ihr wissen.«
Cazaril dachte über diese sachlich vorgebrachte Feststellung nach. »Das sollte mich nicht überraschen. Es liegt in der Natur jeder großen Festung, dass so viele Menschen darin sterben, wie sie erbaut, gewonnen oder verloren haben … Menschen aus Chalion, und vor uns die berühmten Baumeister der Roknari, die frühen Könige, und gewiss davor schon Menschen, die sich in den Höhlen dort verkrochen haben, irgendwann in grauer Vorzeit. Es ist ein sehr auffälliger Ort.« Seit vielen Generationen war der Zangre Sitz von Königen und Fürsten – ungezählte Männer und Frauen hatten dort ihr Leben
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