Chalions Fluch
beendet, die einen aufrecht spektakuläre Weise, andere im Verborgenen. »Der Zangre ist älter als Chalion selbst. Dort hat sich gewiss einiges angesammelt.«
Sorgsam drückte Ista die Dornen vom Rosenstiel und stellte sie in einer Reihe auf wie die Zähne einer Säge. »In der Tat, dort sammelt sich einiges an. Das trifft es genau. Der Zangre sammelt das Unglück wie eine Zisterne, so wie seine Dächer und Rinnsteine das Regenwasser auffangen. Ihr würdet gut daran tun, den Zangre zu meiden, Cazaril.«
»Ich habe nicht das geringste Bedürfnis, bei Hofe zu sein, Herrin.«
»Ich hatte einst dieses Bedürfnis, wünschte es mir sogar von ganzem Herzen. Die unheilvollsten Flüche der Götter kommen als Antwort auf unsere Gebete, wisst Ihr das? Beten ist gefährlich. Ich finde, es sollte verboten werden.« Sie schälte jetzt den Rosenstiel; unter den schmalen grünen Streifen kam das weiße Innere zum Vorschein.
Cazaril wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Also lächelte er nur verlegen.
Ista rupfte die weißen Fasern der Länge nach auseinander. »Man erzählte sich von einer Prophezeiung über Lord dy Lutez … dass er nicht ertrinken könne, es sei denn, er stünde auf dem Gipfel eines Berges. Und dass er nach dieser Prophezeiung nie wieder Furcht vorm Schwimmen hatte, egal wie hoch die Wellen schlugen. Denn jeder weiß, dass es auf dem Gipfel eines Berges kein Wasser gibt. Es fließt in die Täler.«
Mühsam unterdrückte Cazaril sein Entsetzen. Verstohlen hielt er nach der Kammerfrau Ausschau, doch sie war noch nirgends zu sehen. Lord dy Lutez, hieß es, war unter der Wasserfolter in den Verliesen des Zangres gestorben. Innerhalb der Burgmauern, aber doch weit oberhalb der Stadt Cardegoss. Cazaril befeuchtete seine trockenen Lippen und meinte: »Wisst Ihr, von dieser Prophezeiung habe ich niemals gehört, solange der Mann noch lebte. Meiner Ansicht nach hat sich das irgendein Geschichtenerzähler im Nachhinein ausgedacht – um des Schauders willen. Ein so spektakulärer Sturz wie der seine zieht nach dem Tod des Betroffenen stets solche Erklärungen nach sich.«
Ein merkwürdiges Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie zog die letzten Fasern des festen Pflanzenkerns auseinander und klopfte sie flach. »Armer Cazaril! Wie seid Ihr so weise geworden?«
Es blieb Cazaril erspart, eine Antwort darauf zu finden, denn in diesem Augenblick trat Istas Begleiterin aus dem Zugang zum Bergfried. In den Händen hielt sie ein Büschel bunter Seidenfäden. Cazaril sprang auf und nickte der Königin zu. »Eure Dame kehrt zurück …«
Im Vorübergehen beugte er sich kurz zur Gesellschafterin, die ihm eilig zuraunte: »Hat sie sich vernünftig verhalten, mein Herr?«
»Allerdings, ganz und gar vernünftig.« Auf ihre Weise …
»Keine Bemerkungen über dy Lutez?«
»Nichts Bemerkenswertes.«
Die Gesellschafterin atmete auf und ging weiter, wobei sie ein Lächeln aufsetzte. Ista betrachtete sie mit gelangweilter Nachsicht, als sie über all die Dinge plapperte, die sie hatte durchwühlen müssen, um endlich ihr verirrtes Garn wiederzufinden. Cazaril sagte sich, dass eine Tochter der Herzogin und die Mutter Iselles geistig gewiss nicht zu kurz gekommen sein konnte.
Wenn Ista allzu häufig mit ihren begriffsstutzigeren Begleiterinnen sprach und dabei dieselben rätselhaften Gedankensprünge an den Tag legte wie ihm gegenüber, war es kein Wunder, dass im Schloss Gerüchte über ihre Verrücktheit umgingen. Trotzdem, auf ihn wirkte die gelegentliche Undurchsichtigkeit ihrer Gesprächsführung nicht wie sinnloses Geplap per, eher wie eine Geheimsprache. Eine geheime Botschaft von schwer fassbarer innerer Folgerichtigkeit, die sich dem erschloss, der den Schlüssel kannte. Und das war ganz bestimmt nicht er. Allerdings hatte er selbst schon Spielarten des Wahnsinns gesehen, die den gleichen Anschein erweckten …
Cazaril hielt sein Buch fester und suchte ein schattiges Plätzchen, an dem ihm keine beunruhigenden Begegnungen drohten.
Der Sommer verstrich in einer Atmosphäre der Trägheit, die Cazarils Körper und Geist gleichermaßen zuträglich war. Nur der arme Teidez litt unter der Untätigkeit. Die Hitze, die Jahreszeit und sein Privatlehrer erlaubten ihm selten eine Jagd. Dann und wann erlegte er Kaninchen, während die Morgennebel um das Schloss wogten, und fand damit die Billigung sämtlicher Gärtner der Burg. Der Junge war dermaßen hitzig, unruhig und tollpatschig – wenn es so etwas gab wie den
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