Champagner-Fonds
mochte, oder mehr als das?
Nachdem der Stau sich aufgelöst hatte, konnte er die Stadt rasch durchqueren, er verfuhr sich wie immer an einem der beiden Kreisel am Ortsausgang und gelangte nach Pierry. Eine Umleitung führte ihn an einer Druckerei vorbei, und er dachte an das Gespräch mit Touraine. Heute war ihm einiges klarer geworden, obwohl er vergessen hatte, ihn noch mal nach diesem Müller zu fragen.
Die Grenze zwischen Pierry und Moussy markierte ein Ortsschild, sonst hätte man den Übergang von einem Dorf ins nächste kaum bemerkt. Philipp fuhr am Château von Madame Louise vorbei, gelangte am Ende des Dorfes an einen Kreisverkehr und fuhr nach links den Berg hinauf zur Kirche, die auf dem Foto in seinem Büro war. Von hier aus hatte er einen Blick über die Weinberge, das Dorf und die nötige Distanz.
Er stieg aus und betrachtete die Landschaft. Ein Flickenteppich von Weingärten breitete sich rings herum aus, sie begannen hier oben an der Kirche, zogen sich in die Senkehinab, schlossen das Dorf ein und zogen sich dahinter auf ganzer Breite bis auf den Kamm der Hügelkette gegenüber. Die graubraunen Dächer von Moussy waren so typisch für Frankreich, die harten Linien von den runden Kronen der Bäume aufgefangen und gemildert. Ein nadelspitzer Kirchturm war noch immer das höchste Gebäude im Dorf, aber nicht höher als die Hügel. Junges Weinlaub in unterschiedlichem Stadium des Wachstums bedeckte sie, mal heller, mal dunkler, hier dichter, dort lockerer, an anderer Stelle schimmerte der helle Kreideboden durch, der in wenigen Tagen von saftigen Blättern zugedeckt sein würde. Mitten drin strahlte ein Rapsfeld in knalligem Gelb. Ruhe und Hingabe empfand Philipp, Gelassenheit nicht nur gegenüber dem Wetter, sondern auch Bewunderung dem Wachsen gegenüber, das er immer als Wunder betrachtete, auch wenn er die biologischen, chemischen und wer weiß was für Zusammenhänge noch kannte. Vielleicht waren sie das Wunder. Hier fühlte er sich wie ein Kind, das darüber staunte, wie aus einem vertrockneten knorrigen Stock wunderbare Trauben wuchsen. Das Leben, das sich darunter im Boden abspielte, ließ sich nur ahnen oder wissenschaftlich erforschen, aber nicht sinnlich begreifen. In diesen Momenten meldete sich das Gefühl, mit dem er so wenig anfangen konnte, eine Mischung aus Neid und Bewunderung, es war keine Missgunst, es verbarg sich dahinter vielmehr der Wunsch, dabei mitzutun.
Er schnitt den Gedanken ab, ging zum Anfang der Rebzeilen und betrachtete ein Blatt. Er nahm es in die Hand, strich über die glatte Oberfläche, fühlte die Unterseite, strich mit den Fingern über die Zähnung: Es handelte sich um Chardonnay, die Blattoberseite war glatt und nicht blasig wie bei Pinot noir und nicht so gezackt wie bei Pinot meunier. Die Spitze der Triebe war wollig behaart, die Gescheine der späteren Trauben entwickelten sich, und Philipp dachte einmal mehr daran, wie die menschliche Hand,das Licht, der Boden und der Stock zusammenwirkten, bis ein Champagner daraus wurde.
Eigentlich ist das Gesöff für viele viel zu schade, dachte er, zu schade für diejenigen, die es nicht zu schätzen wissen und es nur zum Verspritzen brauchen, zum Prahlen, um in Hotelbars auf sich aufmerksam zu machen oder bei einem Glas Champagner in der Linken mit einem Hämmerchen in der Rechten ein Stück aus einem Rest der Berliner Mauer zu schlagen. Genau das hatte das Hotel »Westin Grand« kürzlich angeboten. Für ihn war es der Gipfel der Geschmacklosigkeit. Vielleicht ein Tröpfchen Blut der Mauertoten in den Blanc de Blancs geben und einen Blanc de Noirs (oder Rosé) daraus machen?
Mit diesem Gedanken verdarb er sich selbst die Stimmung. Er stieg in den Wagen und erreichte eine halbe Stunde später das »Maison Delaunay«. Während er Madame bat, ihm einen Tee zu bringen, den sie im Salon servierte, wo er auf Yves warten wollte, rief er Thomas an.
Das Haus war nicht niedergebrannt, die Gemüsebeete waren weder verdorrt noch abgeerntet, der Bestand an Weinen in Philipps Keller hatte lediglich um eine Flasche abgenommen, und niemand hatte mit Zigaretten Löcher ins Sofa gebrannt. Thomas’ Pläne, das Studium aufzugeben, hatten Gestalt angenommen. Er schrieb bereits Bewerbungen, er hatte durch Philipps Beruf so viel von der Weinszene mitbekommen, dass er wusste, bei wem er sich um eine Lehrstelle bewerben wollte. Den Konkurrenzkampf jetzt schon vor Augen musste es jemand sein, dessen Name bekannt war, und auch die
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