CHAMSA - 5 Tage bis zur Ewigkeit (German Edition)
gegen die bleierne Monotonie an.
Judith, die neben ihr
saß, hatte es längst aufgegeben. Sie fixierte einen imaginären Punkt an der
Wand. Es schien, als wäre sie in Hypnose versunken. Sogar der sonst so
aufmerksame Joshua gähnte verstohlen und hatte Mühe, dem Unterichtsstoff zu
folgen. Einzig und allein Leo schien sich zu konzentrieren. Allerdings ließ sein
finsterer Gesichtsausdruck die Schlussfolgerung zu, dass er dabei nicht an
Physikformeln dachte.
Als die Stunde endlich
vorüber war, stürmten alle über die Flure und eilten erleichtert ins Freie.
Hannah schloss die Tasche in ihren Spind und ging träge zum Sportplatz, wo sie
sich ächzend auf die Bank sinken ließ. Erleichtert stellte sie fest, dass die
anderen wahrscheinlich noch in der Sporthalle waren, um sich für das Training
umzuziehen. Das verschaffte ihr ein paar Minuten Ruhe.
Sie lächelte wehmütig
und wünschte, sie könnte die Zeit zurückdrehen, in der sie energiegeladen
stundenlange Langstreckenläufe absolvierte. Das Laufen war eine ihrer
Lieblingsbeschäftigungen gewesen und hatte sie mit Freude erfüllt. Jetzt fühlte
sie sich schlapp. Sie sehnte sich wieder nach dem Leben, das sie vor ihrer
Krankheit geführt hatte. Müde lächelte sie dem weißen Falken zu, der sich jetzt
auf dem Zaun niederließ. Jeden Tag leistete er ihr Gesellschafft und schien jede
ihrer Bewegungen aufmerksam zu verfolgen.
Manchmal leget er den
Kopf schief, als ob er die Worte, die ihr durch den Kopf gingen, verstünde.
Träge schloss sie für ein paar Minuten ihre Lider und träumte von den samtigen
Augen und der wilden Schönheit des Jungen aus der Welt jenseits des Zaunes.
»Schläfst du?« Joshuas leise Frage riss sie aus ihren Tagträumen. Seufzend
setzte sie sich auf.
»Nein, ich mache nur
Augenpflege«, grinste sie verschwörerisch. Aus den Augenwinkeln sah sie Leo und
die anderen auf sich zukommen. Über Leos zornigem Gesicht lagen dunkle
Gewitterwolken, die eindeutig nichts Gutes versprachen. Wahrscheinlich hatte er
wieder seine aggressiven fünf Minuten, wie so oft in letzter Zeit.
»Verzieh dich«, zischte
Leo dem verschrecktem Joshua zu und schubste ihn weg. Stattdessen setzte er sich
neben Hannah auf die Bank und streckte provokant die Beine aus.
»Was wollte der Kleine
von dir«, raunte er mürrisch. Dabei legte er seinen Arm auf die Rückenlehne der
Parkbank und griff nach einer ihrer Locken. »Das geht dich gar nichts an.«
Empört stieß Hannah seine Hand weg.
»Ich habe ihm schon ein
paarmal geraten, dass er sich von dir fernhalten soll.«
Hannah benötigte ein
paar Sekunden, um seine Aussage zu verarbeiten. »Du hast Joshua gedroht? Bist du
jetzt vollkommen übergeschnappt? Wenn ich dich an unseren Leitspruch erinnern
darf, den du damals selber erfunden hast: Wir sind ein eingeschworenes Team.
Nichts kann unsere Freundschaft zerstören und keiner hat ein Besitzrecht an
keinem.«
»Ja, ich erinnere mich
vage.« Unbeirrt fasste er wieder nach einer Haarsträhne und wickelte sie sich um
den Finger. »Meine Prioritäten haben sich eben geändert. Jetzt habe ich
beschlossen, dass ich dich für mich alleine will.«
Vor seiner
selbstgefälligen Arroganz klappte ihr die Kinnlade herunter. »Nein! Das kannst
du dir getrost abschminken«, zischte sie ihm ins Ohr, bevor sie ausholte und
ihren Ellenbogen in seine Rippen bohrte, um sich aus seiner Umklammerung zu
befreien. Mit einem gemurmelten Fluch ließ er sie los und stand ruckartig auf.
»Das wirst du noch bereuen«, zischte er böse. Dann drehte er sich um und rannte
auf das Spielfeld. Erleichtert atmete sie auf.
Der Wind wehte die
abendlichen Gebetsrufe über den Sportplatz und unterbrach ihren wütenden
Gedankenfluss. Hannahs Blick schweifte zu dem meterhohen Stacheldrahtzaun, der
sie vor der anderen Welt, der ihrer angeblichen Feinde, trennte. Hier, mitten im
südlichen Teil Israels befand sich ihre Geburtsstadt Sderot. Im Westteil der
Negev-Wüste, unweit des nördlichen Gazastreifens gelegen. Der drei Meter hohe
Sicherheitszaun umgab die gesamte Stadt. Dahinter lag die 150 Meter breite
israelische Sperrzone, die mitten durch die Orangenplantagen, Gemüsefelder und
uralten Feigenbäumen der anderen Welt lief und den Menschen dort ihre
Lebensgrundlage nahm.
Nur in der Dunkelheit
oder in der sengenden Hitze der Nachmittage, wenn die israelischen Wachposten
nicht ganz so aufmerksam waren, wagten sich die palästinensischen Bauern auf
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