Chaosprinz Band 1
schon ganze fünf Minuten an. Fünf Minuten, in denen keiner auch nur ein einziges Wort gesagt hat. Das kommt in diesem Haus so gut wie nie vor.
Ich schaue unauffällig auf meine Armbanduhr. Jetzt sind es schon sechs Minuten… Ma schnieft leise und Gordon reicht ihr ein Papiertaschentuch. Mein Blick fixiert die Tischplatte. Ich will Ma nicht beim Weinen zusehen, das kann ich einfach nicht. Zumal ich auch noch die Schuld an ihren Tränen trage.
Seit einer Stunde diskutieren wir über unsere Zukunft. Mas Entscheidung steht fest: Sie will auswandern. Ich bin weniger entschlossen. Keine Ahnung, was ich tun soll. Das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass ich nicht mit nach Afrika gehen will. Egal, was mein Schicksal für mich geplant hat, mit Giraffen und Wasserknappheit hat es sicher nichts zu tun.
Kalle ist der Erste, der das Schweigen bricht. Seine Stimme klingt unnatürlich laut und alle zucken kurz zusammen.
»Was ist eigentlich mit ihm?«
Irritiert blicke ich ihn an. Den anderen geht es nicht besser, wir brauchen eine Weile, ehe wir begreifen, worauf Kalle anspielt. Er hat die Geburtstagskarte in die Hand genommen und begonnen, leicht damit hin und her zu wedeln. Die Karte von meinem Vater…
»Was soll mit ihm sein?!« Ma klingt gereizt. »Joachim hat sich die letzten fünf Jahre nicht für Torsten interessiert, warum sollte er ihn jetzt bei sich aufnehmen?«
Es tut ein bisschen weh, als Ma den Namen benutzt, den mein Vater fälschlicherweise auf die Karte geschrieben hat. Ich ignoriere das kleine Stechen in der Herzgegend und starre die Karte wie hypnotisiert an. Kalle hält sie immer noch in der Hand.
»Na, dann wird es doch mal Zeit, oder? Komm schon, Anna, du hast uns erzählt, dass er wieder geheiratet hat. Er hat Geld, ein großes Haus und eine Familie… Außerdem gibt es in München genug gute Schulen und Unis, auf die Tobi gehen könnte. Naja, ist nur ein Vorschlag…« Kalle verstummt und legt die Karte zurück auf den Tisch.
Alle sehen erst Ma und dann mich an. Keiner traut sich, etwas zu sagen. Obwohl jedem in diesem Raum klar ist, wie schwer der Vorschlag meiner Mutter im Magen liegen muss, kann doch niemand bestreiten, dass er durchaus Sinn macht.
Joachim ist mein Vater und er hat mir gegenüber eine Verpflichtung. Und wer weiß, vielleicht bekomme ich in München nicht nur eine ausgezeichnete Ausbildung und die Chance auf eine aussichtsreiche Zukunft, sondern auch eine intakte Bilderbuchfamilie mit einem Bilderbuchvater und vor allem richtigen Geschwistern... Die Idee gefällt mir immer besser, doch Mas trotziger Gesichtsausdruck holt mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
»Wir sind fünfzehn Jahre lang bestens ohne ihn zurechtgekommen, da werde ich jetzt bestimmt nicht vor ihm zu Kreuze kriechen und ihn um diesen Gefallen bitten! Nein! Uns wird was anderes einfallen. Irgendwo wird Tobi schon unterkommen!«
»Tobi will aber nicht irgendwo unterkommen.« Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich mich völlig aus der Diskussion herausgehalten. Umso erschrockener werde ich nun von allen Seiten angestarrt.
Langsam stehe ich auf. Mein Stuhl macht ein schabendes Geräusch, als er über den Holzfußboden geschoben wird.
»Wie meinst du das, Tobi?« Mas Stimme ist leise, sie klingt verletzt.
Verdammt, ich will ihr nicht wehtun. Wirklich nicht. Aber was soll ich denn machen? Hier geht es schließlich um mich, mein Leben, meine Zukunft… Sie hat ja auch zuerst an sich gedacht, als sie beschlossen hat, Afrika zu retten.
»Ma, ich weiß, wie du zu Joachim stehst. Und du hast ja recht, er war nie für mich da. Aber jetzt… jetzt habe ich die Chance, ihn kennenzulernen. Wir können vielleicht bei Null anfangen. Ich will es versuchen…« Meine Stimme ist immer leiser geworden. Plötzlich schäme ich mich für meinen Gefühlsausbruch und Mas tränennasse Augen tragen auch nicht dazu bei, mein schlechtes Gewissen zu entlasten. Doch dann senkt sie ihren Blick und nickt heftig.
»Okay, mein Schatz.« Sie schluckt und ich kann die Tränen an ihren Wangen herunterkullern sehen. »Wenn es dir so viel bedeutet, dann werde ich ihn anrufen. Aber ich hoffe, dir ist klar, worauf du dich da einlässt – und was du mir damit antust.« Bei dem letzten Satz reckt sie ihr Kinn theatralisch in die Höhe und ich muss ein bisschen grinsen. Ich weiß doch, dass sie mich nur ärgern will.
Sofort geht Ma zum Telefon und wählt die Nummer meines Vaters. Es dauert ein paar Minuten, dann sagt sie in
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