Chaosprinz Band 1
Gespräch die ganze Zeit über mit verwirrtem Blick gelauscht hat, lächelt mich unsicher an. Ich ziehe eine Grimasse und zucke mit den Achseln.
»Schön für dich«, zischt Alexander. Zumindest bin ich davon überzeugt, gerade meinen lieblichen Stiefbruder in spe am Handy zu haben.
»Und wo darf ich dich jetzt abholen?«
»Du musst mich gar nicht abholen, wenn es dir nicht passt«, motze ich zurück.
»Oh doch, glaub mir, ich muss. Und ich kann mir auch nettere Dinge vorstellen, die man an einem Freitagabend machen könnte.«
Ich schnaube und sehe dann noch einmal kurz zu Manuel, der immer noch verwirrt zu sein scheint.
»In zwei Minuten schicke ich dir eine SMS mit der Adresse.«
»Super, kann's kaum erwarten. Ich freu mich.«
»Arschloch!«
»Wichser!«
Ich lege auf. Gott, was für ein Penner, was für ein riesen Arsch…
Meine Hand zittert, als ich das Handy wieder in die Tasche lege. Ich bin auf Hundertachtzig. Wie kann mich ein Typ, den ich überhaupt nicht kenne, dem ich noch nie in meinem Leben begegnet bin, nur so rasend machen?
»Alles okay?«, fragt Manuel vorsichtig nach und schaut auf meine zitternden Hände.
Ich presse sie auf meine Oberschenkel, um das Zittern zu verbergen.
»Nein… äh, ich meine, ja, klar. Kannst du mir die Adresse deiner Praxis geben? Das Arschloch – äh, Alexander, mein Stiefbruder – holt mich gleich dort ab.«
Manuel sieht mich schon wieder so seltsam an, irgendwie besorgt und sehr lieb. Ich werde sofort etwas ruhiger. Seine sanften, braunen Augen lassen Wut und Aggressionen einfach nicht zu.
»Klar geb ich dir die Adresse. Wir sind ja sowieso gleich da. Zu Fuß hätten wir nur zehn Minuten gebraucht, aber bei dem Verkehr… Dein Stiefbruder, also… Magst du ihn nicht?«
»Also, wenn ich ehrlich bin, kann ich das gar nicht genau sagen. Ich kenne ihn nämlich überhaupt nicht.«
Und dann erzähle ich Manuel alles. Von Ma, Gordon und Äthiopien, von meinem Vater, seiner neuen Familie und meinem Umzug. Die Geschichte endet mit meiner stundenlangen Warterei am Bahnhof und dem kleinen Ikea-Unfall .
»Ich war wütend, traurig und durcheinander, weil alles so neu und fremd war. Ich hatte Angst, meinem Vater gegenüberzutreten. Keiner war da, um mich abzuholen, und ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte. Da hab ich auch noch gemerkt, dass ich das Abschiedsgeschenk meiner besten Freunde im ICE liegen gelassen habe und als dann Ikea meine beste Jeans vollgeschissen hat…«
Wir parken vor einer alten Villa. Am Eingangstor hängt ein Schild: Tierklinik Buchenwald – Gemeinschaftspraxis: Dr. Reuter, Dr. Schmitt senior, Dr. Schmitt junior, Dr. Fleischer, Dr. Gleisner
Darunter steht die Adresse. Ohne Eile steige ich aus dem alten Auto. Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt. Sehr sicher und geborgen. Manuel sieht mich an.
»Kommst du?« Er lächelt.
»Ich schreibe meinem Stiefbruder nur zuerst eine SMS…«
»Okay, Ikea und ich gehen schon rein. Sag einfach an der Anmeldung Bescheid, dass du zu mir gehörst.« Er geht über den schön angelegten Hof zur Eingangstür und ist verschwunden. Ich sehe ihm nach.
» …dass du zu mir gehörst. «
Wow, wie das geklungen hat, fast so, als wäre er mein Freund. Also nicht nur so platonisch… Alberner Gedanke, er ist bestimmt hetero und verheiratet oder so. Haus, Hund und Kinderschaukel im Vorgarten. Mit Gewalt schiebe ich diese Überlegungen von mir. Dafür ist jetzt keine Zeit.
Ich schaue auf meine Armbanduhr. 20.25 Uhr. Schnell tippe ich die Adresse in mein Handy. Keine Erklärungen, keine weiteren Kommentare, weder ein Hi noch ein Bis gleich . Dann gehe auch ich in Richtung Eingangstür.
Drinnen riecht es nach Tier. Ist in gewisser Weise auch logisch. An den Wänden hängen Bilder von glücklichen Golden Retrievern und bunten Wellensittichen. Alles sieht nett, modern und freundlich aus. Fast ein bisschen zu modern für Manuel. Zu ihm würde ein alter, staubiger Bauernhof besser passen.
Manuel könnte dann auf dem Heuboden stehen, ohne Hemd, nur in einer alten, verwaschenen Jeans und total verschwitzt vom Strohballen hin und her wuchten. Und ich bringe ihm kühles, klares Wasser, das er sich dann einfach über den Kopf kippt…
»Hallo? Ich hab dich gefragt, ob ich dir helfen kann?«
»Was? Ach so, Entschuldigung! Ja, ich suche Manuel… äh Dr. Schmitt… Ich gehöre zu ihm… Also, wir sind zusammen, äh, wir sind zusammen hier, wollte ich sagen. Wo kann ich ihn finden?« Scheiß Gestotter, scheiß
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