Chaosprinz Band 1
verstehe. Ich fühle mich wie der einzige Besucher einer Pantomimenshow. Vor mir auf der Bühne spielen sie ein kompliziertes Stück, dessen Inhalt ich nicht kapiere.
Ich weiß nur eines, meine Familie ist in diesem Moment todunglücklich und obwohl sie mich in den letzten zwei Wochen nicht wirklich gut behandelt haben, verletzt es mich irgendwie, sie so zu sehen. Wo ist ihr Stolz, ihr Zusammenhalt, ihre Leidenschaft? Ihre stumme Kapitulation macht mich wütend.
»Achtung, der Warmduscher kommt wieder zurück«, brummt Erwin plötzlich vergnügt und reißt mich so aus meiner Gedankenwelt.
Mit einer weiteren Flasche Weißwein in der Hand bewegt sich der Ober von eben auf unseren Tisch zu. Erwin amüsiert sich über seinen eigenen Witz und stößt Maria, die neben ihm sitzt, mit dem Ellbogen an. Maria lacht kurz auf.
»So, Jungs.« Erwin sieht Alex und mich an. »Jetzt dürft ihr bloß nicht aufstehen und dann eure Servietten fallen lassen.«
Wieder lachen alle. Mein Vater wischt sich imaginäre Tränen aus den Augenwinkeln und Bettina hält sich die Hand vor den Mund. Timmy und Emma kichern auch – doch wissen sie natürlich nicht, worum es gerade geht.
Ich spüre, wie mir übel wird. Das Gefühl entsteht irgendwo in der Magengegend, wandert dann den Rücken hoch, lässt mich meine Nackenhaare aufstellen und macht, dass sich meine Wangen verfärben und der Knoten in meinem Hals noch enger wird. Plötzlich hören alle auf zu lachen und starren mich an.
Ich brauche einige Sekunden, ehe ich realisiere, dass ich aufgestanden bin. Der Stuhl, auf dem ich bis eben noch gesessen habe, ist dabei geräuschvoll umgefallen. Nun stehe ich vor dem Tisch und habe die volle Aufmerksamkeit meiner Familie.
»Tobias?« Joachim sieht mich geschockt an.
»Ich hasse Schellfisch! Ich finde ihn ekelhaft!« Mit beiden Händen halte ich meinen Teller umklammert und starre Erwin und Lydia wütend an. Meine Kehle ist so fest zugeschnürt, dass mir das Sprechen extrem schwerfällt. Meine Stimme klingt gepresst und rau.
»Wir alle hassen Schellfisch! Er schmeckt uns nicht und wir wollen ihn nicht essen, wir wollen ihn nie wieder essen.« Immer noch sehen mich alle an.
»Nun, das ist doch in Ordnung, junger Mann.« Obwohl er mir völlig ruhig und entspannt geantwortet hat, kann ich trotzdem eine strenge Warnung aus Erwins Stimme heraushören.
»Nein, es ist nicht in Ordnung . Wieso dürfen wir denn nicht bestellen, was wir wollen?« Ich werde immer lauter, ich merke es, kann aber nichts dagegen tun.
»Tobias!« Joachim sieht mich wütend an. »Warte im Auto auf uns!«
Bumms!
Egal, wo ich gerade gewesen bin, ich bin wieder zurück. Gelandet auf dem Boden der Tatsachen. Verwirrt schaue ich mich im Raum um, die Gäste haben aufgehört zu essen, alle Gespräche sind verstummt. Als wären alle in einen 100-jährigen Dornröschenschlaf gefallen. Bettina hat den Blick gesenkt, ich kann ihre Augen nicht sehen, die Zwillinge schauen verwirrt zu mir hoch, Maria fixiert immer noch die Reste ihres Fisches, die Pohlmanns blicken finster und abweisend, Joachim streng und wütend und ich traue mich gar nicht erst, Alex anzusehen…
Ich spüre meinen schnellen Herzschlag. Verletzt drehe ich mich auf der Stelle um und stürme aus dem Restaurant. Die Leute schauen mir neugierig hinterher, einige Kellner müssen hastig einen Schritt beiseitetreten, um mir den Weg freizumachen.
Ich will einfach nur noch weg. Weg von diesem fiesen heuchlerischen Pack. Weg von den tyrannischen Alten und den unterwürfigen Jungen. Die sind alle so falsch. So falsch und feige. Ich weiß nicht, warum ich so reagiert habe… Vielleicht war ich verletzt und wütend wegen der Schwulenwitze … aber vielleicht wollte ich ihnen auch nur helfen… ich bin mir nicht sicher…
Ich laufe immer weiter und weiter durch die Münchner Innenstadt. Je länger ich laufe und je weiter ich komme, desto langsamer schlägt mein Puls. Er beginnt, sich zu beruhigen, mein Herz findet seinen Rhythmus wieder, der Kloß in meinem Hals löst sich etwas und die betäubende Wut weicht Traurigkeit.
Wie dumm ich gewesen bin! Mein Ausbruch hat alles nur noch viel schlimmer gemacht. Und jetzt stehe ich hier irgendwo in München und weiß nicht, wohin. Die Leute in der Fußgängerzone starren mich verwirrt an. Erst jetzt bemerke ich den weißen Porzellanteller mit dem Schellfisch, den ich die ganze Zeit mit mir herumgetragen habe.
12. Kapitel
Tanz mit mir!
Der Schein der Straßenlaterne lässt die
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