Chaosprinz Band 1
München kennengelernt, der ist wirklich nett und –«
»Um Gottes willen, Maria! Mach mich jetzt bloß nicht schwach! Deine arme Großmutter hat doch so ein zartes Herz.« Lydia lacht gekünstelt auf. »Ein Tennislehrer? Wahrscheinlich älter als du und total mittellos. Und am Ende wirst du mit siebzehn schwanger, kannst dein Abitur nicht machen, nicht studieren und verbaust dir so deine wundervolle Zukunft. Nein, nein, das wollen wir doch alle nicht.« Und viel leiser fügt sie noch hinzu: »Das hatten wir ja schon…«
Ich lasse von meinem Schellfisch ab, der mittlerweile mehr als nur tot ist, und schaue verwirrt auf.
»Keine Sorge, Maria und Alex haben feste Ziele im Leben… Und mit ihren Noten können sie diese auch verwirklichen!« Joachim blickt seine Stiefkinder stolz an und ich kann einen kleinen Stich des Neides in meiner Brust fühlen.
»Das hört man gerne!« Erwin sieht seinen Schwiegersohn zufrieden an. Dann dreht er den Kopf zu Alex, der mit ausdruckslosem Gesicht einen Bissen nach dem nächsten hinunterwürgt.
»Deine Mutter hat am Telefon erzählt, dass du vor ein paar Wochen ein Praktikum in der Bank deines Vaters gemacht hast. Ich bin wirklich stolz auf dich, Alexander. Das bedeutet also, dass du diese alberne Schreiberei endlich aufgegeben hast?«
Was?
Alex schaut auf. Seine grauen Augen blicken starr in das Gesicht seines Großvaters. Einen kurzen Moment lang kann ich ein wildes Feuer in ihnen auflodern sehen.
Unbändige Leidenschaft, Wut, Stolz und Stärke…
Dann schließt er sie für zwei Sekunden, atmet leise aus und blickt seinen Großvater erneut an. Dieses Mal sind seine Augen wieder grau, kalt und verschlossen…
Er nickt kurz. »Ja, Großvater.«
Ich sitze immer noch neben ihm, sehr nah, unsere Schultern berühren sich fast. Alex schreibt? Ich muss an das dicke Notizbuch auf seinem Schreibtisch denken und eine heftige Scham überkommt mich. Dieses Thema scheint ihm wichtig zu sein und ich habe nichts Besseres zu tun, als dumme Witze zu reißen. Wie peinlich.
Ich frage mich, was er so geschrieben hat? Gedichte oder Romane?
Rosen sind rot, Veilchen sind blau
Und ich lieb dich wie die Sau…!
Ich verschlinge dich mit Blicken,
Und will jetzt mit dir… spazieren gehen!
Naja, ich bin mir sicher, Alex' Gedichte haben deutlich mehr Tiefgang. Tja, wer hätte das gedacht: Der eiskalte, arrogante Schönling, der nie um einen spöttischen Kommentar verlegen ist, ist in Wahrheit ein Poet und liebt Literatur. Ich bin völlig hin und weg.
»Das Bankwesen ist eine Branche, in der du richtig Karriere machen kannst, Alexander. Man hat die Möglichkeit, alles zu erreichen, und somit seiner Familie eine sichere und schöne Zukunft zu bieten.« Erwin scheint sehr zufrieden mit seinem Enkel zu sein und Joachim nickt bei jedem Wort mit begeisterter Miene.
Karriere, Geld und Macht, um die Familie glücklich zu machen? Und Alex hat die Schreiberei aufgegeben, um nun auch so ein Karriere-mensch zu werden? Das ist doch scheiße!
Der Ober von eben kommt mit einer neuen Flasche Weißwein an unseren Tisch. Er lächelt höflich, verbeugt sich dann leicht vor Erwin und zeigt ihm das Etikett der Flasche. Erwin nickt nur kurz, er beachtet den jungen Mann nicht weiter. Mit geschmeidigen Bewegungen öffnet der Ober die Weinflasche und gießt erst dem alten Pohlmann und seiner Frau, dann Bettina und Joachim Wein ein.
Die Art, wie er sich bewegt, und der Klang seiner leisen Stimme deuten darauf hin, dass er schwul ist. Zumindest verkörpert er das klischeehafte Bild, das die meisten Leute von Homosexuellen haben. Erwin beobachtet den jungen Ober und gibt Joachim kopfnickend ein Zeichen. Dieser grinst nur vielsagend und schaut dann wieder auf seinen halben Schellfisch. Ich kann eine leise Nervosität spüren, die zaghaft meinen Nacken hochfährt und sich in meiner Kehle festsetzt.
»Bettina, ich habe neulich Ulrike Iller beim Friseur getroffen, sie ging doch in deine Klasse, oder? Wie dem auch sei, nun ist sie Richterin am Obersten Gerichtshof… Ach, und erinnerst du dich noch an Frederike Graumayer… Heute heißt sie, glaube ich, Frederike Dallhaus… Sie leitet ein eigenes, sehr erfolgreiches Modelabel.« Lydia tupft sich wieder einmal mit ihrer Serviette über die Lippen.
»Ach ja?« Bettina schiebt ihren Teller mit dem Fisch zur Seite.
Die Luft vibriert, vor lauter unausgesprochenen Gedanken und Gefühlen. Alle reden und keiner sagt etwas. In ihren Blicken liegen so viele Worte, die ich nicht
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