Charles Dickens
Skandals in Kauf nehmen konnte.
Große Erwartungen
Dies ist nach
David Copperfield
der zweite Roman, den Dickens vom Helden in der Ich-Form erzählen lässt. Deshalb liegt es nahe, auch hier einen autobiographischen Bezug zu vermuten. Doch mehr als die schwierige Kindheit der Helden haben die beiden Romane nicht gemein. In kompositorischer Hinsicht sind sie sogar einander entgegengesetzt. David Copperfield erzählt sein Leben in traditioneller Manier als linear voranschreitende Entwicklung und beginnt mit seiner Geburt. In
Great Expectations
beginnt Philip Pirrip, der sich als Kleinkind Pip nannte und diesen Namen beibehielt, seine Erzählung auf dem Friedhof, auf dem seine Eltern begraben sind. Das ist die rückwärtsgewandte Blickrichtung, die seit
Bleak House
in allen Romanen des Dichters die voranschreitende Erzählung begleitet, woraus sich das Grundmuster des Detektivromans ergibt.
Der Roman setzt in typisch Dickensscher Manier mit einer meisterhaft komponierten Ouvertüre ein, die die zentrale Thematik symbolisch vorwegnimmt. Wieder geht es um das Spannungsfeld zwischen Gefängnis, Wasser und Erbschaft. Der Friedhof liegt in einer öden Marschlandschaft am Ufer der Themse. Im Wasser liegen die Rümpfe ausgemusterter Schiffe, die
hulks
, die dort zu Gefängnissen umfunktioniert wurden. Aus einem dieser
hulks
ist ein Sträfling entflohen, der Pip auf dem Friedhof plötzlich gegenübertritt, ihn bedroht und durch Einschüchterung zwingt, ihm von zu Hause Nahrung und eine Feile zu bringen, damit er sich von seinem Fußeisen befreien kann. Pip gehorcht und knüpft damit ahnungslos den ersten Faden eines Schicksalsnetzes, das ohne sein Wissen auf ihn einwirkt, bis es plötzlich in der Mitte des Romans in sein Leben einbricht und ihn vor die Aufgabe stellt, sich von dieser Fremdbestimmung zu emanzipieren. Der Handlungsverlauf ist in groben Zügen folgender:
Pip wächst nach dem Tode seiner Eltern bei seiner sehr viel älteren Schwester und ihrem Mann, dem Hufschmied Joe Gargery, auf. Während die Schwester ihn lieblos behandelt, findet er bei Joe warmherzige Zuwendung. Ein Jahr nach der Begegnung mit dem Sträfling wird ervon Miss Havisham nach Satis House eingeladen, um ihrer Pflegetochter Estella Gesellschaft zu leisten. Das äußerlich herrschaftliche Haus ist eine makabre Gruft; denn Miss Havisham hat es, samt Kuchen und Brautkleid, so konserviert, wie es am Tage ihrer geplanten Hochzeit aussah, zu der ihr Bräutigam nicht erschien. Jetzt lebt sie dort verbittert mit der bildschönen, aber gefühlskalten Estella, die Pip als Inbegriff einer Welt erscheint, zu der nur ein Gentleman, aber nicht der Pflegesohn eines Hufschmieds Zutritt hat. Als er später bei Joe in die Lehre geht, taucht unerwartet ein Rechtsanwalt auf, der ihm «große Erwartungen» eröffnet, ihn mit Geld versorgt und nach London mitnimmt. Pip glaubt, dass Miss Havisham ihn als zukünftigen Ehemann für Estella erwählt hat und aus ihm erst einmal einen Gentleman machen will. Er ist blind für die Liebe Biddys, die – ein Waisenkind wie er selber – als Hilfslehrerin in der Dorfschule arbeitet. Obwohl er sie gern hat, sieht er in ihr keine standesgemäße Partnerin.
Nach Jahren des Müßiggangs in der Metropole taucht plötzlich der Sträfling wieder auf, und Pip erfährt, dass nicht Miss Havisham, sondern dieser Mann sein heimlicher Wohltäter war. Magwitch, so sein Name, war, nachdem er trotz Pips Hilfeleistung wieder eingefangen worden war, nach Australien deportiert worden, wo er es als Schafzüchter zu beträchtlichem Reichtum gebracht hatte. Von dort ist er illegal nach England zurückgekehrt, weil er sich in den Kopf gesetzt hatte, mit seinem Reichtum den Jungen, der ihm damals geholfen hatte, in die gute Gesellschaft zu lancieren, aus der er als Verbrecher für immer ausgeschlossen war. Pip erlebt diese Enthüllung als bitteres Ende seines Traums von einem Leben als Gentleman. Erst allmählich befreit er sich von seinem Dünkel, erkennt seine moralische Verpflichtung gegenüber Magwitch und versucht ihn außer Landes zu bringen, da ihm im Falle einer Festnahme die Todesstrafe droht.
Der Roman endet mit einem dramatischen Finale, bei dem auch in Magwitchs Leben eine schicksalhafte Vergangenheit einbricht: Damals, als Pip ihm die Feile brachte und er hätte flüchten können, kam es zwischen ihm und Compeyson, einem anderen entflohenen Sträfling, zu einem Kampf, bei dem sie beide von der Polizei festgenommen wurden. So wie
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