Charles Dickens
Magwitch als unsichtbarer Schatten Pip begleitete, so begleitete Compeyson den Sträfling Magwitch. Als schließlich das verborgene Schicksalsgewebe ans Licht kommt, erfährt der Leser, dassCompeyson der Mann war, der einst Miss Havisham sitzen ließ, dass Magwitch von diesem, seinem einstigen Komplizen, verraten wurde und dass Estella Magwitchs Tochter ist.
Pips Versuch, Magwitch in einem Boot auf ein auslaufendes Schiff zu bringen, wird durch ein Polizeiboot vereitelt, in dem sich Compeyson als Polizeispitzel befindet. Es kommt zwischen den beiden Sträflingen zu einem Kampf im Wasser der Themse, bei dem Magwitch Compeyson ertränkt, während er selber so schwer verletzt wird, dass er noch vor Vollstreckung der drohenden Todesstrafe im Gefängnis stirbt. Auch Pip wird schwerkrank. Seine physische Genesung ist zugleich die moralische Rückkehr zu seinem besseren Selbst. Seine «großen Erwartungen» haben sich als Illusion erwiesen; das Vermögen, das er in Aussicht hatte, ist verloren. Da besinnt er sich auf Biddy, doch als er sich aufmacht, um sie um ihre Hand zu bitten, trifft er sie am Tag ihrer Hochzeit mit Joe, dem sie den Haushalt führte, nachdem seine Frau Opfer eines Verbrechens geworden war.
In der ursprünglichen Fassung lässt Dickens Pip für acht Jahre nach Ägypten gehen, wo er in einem Handelsunternehmen tätig ist. Nach seiner Rückkehr trifft er Estella, die nach einer unglücklichen ersten Ehe jetzt mit einem Landarzt verheiratet ist. Dickens Freund Bulwer-Lytton fand diesen Schluss unbefriedigend und riet zu einem positiveren Ende. Daraufhin ließ Dickens seinen Helden nach elf Jahren aus Ägypten zurückkehren und vor den Ruinen von Satis House mit der verwitweten Estella zusammentreffen. Pips Schlusssatz lautet: «Ich sah keinen Schatten einer erneuten Trennung von ihr.»
Wer nur diese Inhaltsangabe liest, ohne das Werk zu kennen, wird einen typischen Kolportageroman vermuten, bei dem ohne Rücksicht auf realistische Glaubwürdigkeit alles mit allem verknüpft ist. Doch an den Symbolen und Bildern lässt sich Pips innere Entwicklung ablesen. Wieder geht es um die Emanzipation von der Fremdbestimmung durch eine erwartete Erbschaft und um die Selbstbewahrung gegen die doppelte Gefahr der inneren Erstarrung einerseits, verkörpert durch das gefängnishafte Satis House, und der inneren Haltlosigkeit andererseits, symbolisiert durch das Wasser. Dabei setzt Dickens die Symbole nicht einfach schematisch ein, sondern gibt ihnen eine schillernde Ambivalenz. So wie das Wasser neben der Gefahr des Versinkens auch eine Sphäre der Wiedergeburt ist, so wird dem Gefängnis von Satis Housedas gemütliche Heim von Wemmick, dem guten Geist in der Londoner Gefängniswelt, gegenübergestellt, der sein Haus als Wemmicks ‹Burg›
(castle)
bezeichnet. Gewiss zollt Dickens auch hier der viktorianischen Scheinheiligkeit Tribut, wenn er den Verlust von Reichtum als moralischen Gewinn darstellt, doch in wesentlichen Punkten löst er sich von den Klischees, denen er in
David Copperfield
noch gefolgt war. So lässt er Pip nicht – wie David bei Agnes – seinen Frieden bei Biddy finden. Während David noch mit spürbarem Stolz von seinem Aufstieg in die bessere Gesellschaft erzählt, erfährt Pip das Ideal des Gentleman als große Illusion, was zugleich eine Kritik an diesem Ideal impliziert. Denn als Gentleman im soziologischen Sinn galt damals jeder, der seinen Lebensunterhalt nicht durch Arbeit verdienen musste. Dem stellt Dickens den Gentleman des Herzens entgegen, in den sich Pip verwandelt hat.
Obwohl Pips Erzählung sehr viel kürzer ausfällt als Davids, ist sie dank der Symbolik dichter und facettenreicher. Psychologisch wirkt der Roman zwar noch immer etwas krude, wenn man ihn mit den Werken großer Realisten wie Tolstoi, Flaubert oder in England George Eliot vergleicht, doch sobald man ihn als Wort-Oper liest, wird man seiner musikalischen Komposition Bewunderung zollen müssen. Besonders eindrucksvoll ist die Schlusssequenz, in der die zentralen Symbole in einer Engführung zusammengefasst werden. Da gleiten die Fliehenden themseabwärts der erhofften Freiheit entgegen, während am Ufer baufällige Häuser, in denen man das Echo der Schuhwichsfabrik spürt, im Wasser zu versinken scheinen; und in der Tasche von Magwitch befindet sich das Sinnbild von Pips Erbschaft, nämlich eine Geldbörse, die danach von der Polizei konfisziert wird. An musikalische Ausdrucksmittel erinnert auch die einhämmernde
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