Charles Dickens
letzten Roman gewidmethatte. Dickens war tief erschüttert. Mit Tennent, einem liberalen Politiker und Kämpfer gegen die
Corn Laws
, hatte er 1853 den Vesuv bestiegen und danach eine enge Freundschaft unterhalten. Wie schon bei Cattermole traf ihn auch diese Todesnachricht besonders hart, da er die eigenen Kräfte schwinden fühlte und jeden Tod eines Freundes wie eine wegbrechende Stütze empfand. Was ihn aber immer wieder aufbaute, waren der Beifall des Publikums und öffentliche Ehrungen, die ihm wiederholt zuteil wurden. So gab ihm, einen Monat nach der Todesnachricht, die Stadt Liverpool ein großes Festbankett, auf dem er sich mit emphatischen Worten zur «Würde der Literatur» äußerte.
Kurz darauf wurde er ernsthaft krank. Blutende Hämorrhoiden, der angeschwollene Fuß und andauernde Schlaflosigkeit brachten ihn an den Rand des Zusammenbruchs. Auch der linke Arm und die Hand zeigten nun Lähmungserscheinungen. In Chester kamen Schwindelanfälle dazu. Zunächst setzte er die Tour mit Lesungen in Blackburn und Bolton fort. Doch dann kam sein Arzt Dr. Beard, dem er die Symptome in einem Brief beschrieben hatte, aus London nach Preston, Dickens’ nächster Station. Er untersuchte ihn, verordnete ihm absolute Ruhe und verbot ihm jeden weiteren Auftritt. In Gad’s Hill wurde dann ein zweiter Arzt, Dr. Watson, hinzugezogen, und die beiden gaben, wie bei einem König, in einem öffentlichen Bulletin bekannt, dass Dickens in den nächsten Monaten keine Lesungen mehr geben könne. Die Ruhe tat ihm gut und er erholte sich erstaunlich schnell. Zu seiner Aufheiterung trug auch das Ehepaar Fields aus Boston bei, das ihn auf seiner Tournee in den USA so vorbildlich umsorgt hatte und ihn jetzt am 11. Mai besuchte.
Die erzwungene Pause gab Dickens Zeit, nun auch wieder über einen neuen Roman nachzudenken. Am 18. Oktober schrieb er an Macready, dass er sich in den
preliminary agonies,
den «vorausgehenden Agonien», befinde, von denen der Beginn eines neuen Romans bei ihm regelmäßig begleitet wurde; und schon eine Woche später war die erste Nummer davon fertig. Bis Ende November war auch die zweite so weit. Dickens hatte von Anfang an einen kurzen, kompakten Roman nach Art von
Great Expectations
im Sinn. Er wusste, dass das Publikum nicht mehr wie früher nach breit ausgesponnenen Erzählungen verlangte, sondern nach spannenden Geschichten, wie Wilkie Collins sie schrieb. Deshalb wollte er den Roman auch nicht in wöchentlichenFortsetzungen in seiner Zeitschrift herausbringen, sondern in zwölf monatlichen Lieferungen, die von Chapman & Hall verlegt werden sollten. Das würde ihm Zeit geben, die einzelnen Nummern so zu gestalten, dass der Leser jedes Mal am Ende einer Folge im Zustand des
cliff-hanging
(an der Klippe hängend) gelassen würde; so nennt man auf Englisch die Spannungstechnik erfolgreicher Fortsetzungsromane. Es ist kaum zu übersehen, dass er sich mit
The Mystery of Edwin Drood (Das Geheimnis um Edwin Drood)
, so der Titel des neuen Werkes, ganz bewusst in Konkurrenz zu seinem jungen Freund Wilkie Collins begab, dem er jetzt zeigen wollte, wer von beiden der Meister war.
Ein Problem waren die Illustrationen. Dickens’ Schwiegersohn Charles Collins, der dafür vorgesehen war, musste aus Gesundheitsgründen absagen. So fiel die Wahl auf den jungen Luke Fildes, der ihm von dem befreundeten Maler John Everett Millais empfohlen worden war. Bei keinem seiner Romane hat sich Dickens so sehr in geheimnisvolles Schweigen über die Handlung gehüllt wie bei diesem. Selbst Forster, von dem er sich sonst gern in Fragen der Handlungsführung beraten ließ, wurde im Dunkeln gelassen. Charles Collins hatte, bevor er den Auftrag zurückgab, nach Dickens’ Angaben das Titelblatt entworfen, ohne zu wissen, was die von ihm gezeichneten Szenen bedeuten sollten. So ist dieser Umschlag der einzelnen Lieferungen bis heute das Ausgangsindiz für alle Hobbydetektive, die dem Geheimnis um Edwin Drood auf die Spur kommen wollen.
Dickens’ gesundheitliche Probleme hielten die ganze Zeit über an. Als die Familie in Gad’s Hill Weihnachten feierte, fühlte er sich zu schwach, um nach unten zu gehen und an den Spielen der Kinder teilzunehmen. Trotzdem entschloss er sich gegen den Rat seines Arztes, die unterbrochene Lesetournee ab 11. Januar wieder aufzunehmen und bis zum 15. März anfangs zweimal, dann einmal wöchentlich eine Lesung in London zu geben. Zu diesem Zweck mietete er ein Stadthaus in Hyde Park Place, um
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