Charles Dickens
Dickens, der schon bald mit dem Mediziner Freundschaft schloss und ihn lange Zeit als Hausarzt der Familie konsultierte.
Einen noch engeren, lebenslangen Freund fand er wenig später in dem Geistlichen Chauncy Hare Townshend (1798–1868), der 1840 das Buch
Facts in Mesmerism
publizierte und damit für Elliotsons Theorien eine wachsende Gefolgschaft gewann. Auch Dickens lernte das Verfahren und übte es gelegentlich aus, ließ sich aber nie selber hypnotisieren. Über die Gründe seines Interesses lässt sich nur spekulieren. Viel spricht dafür, dass es seinem Bedürfnis nach Macht entgegenkam, was sich wiederum als Reaktion auf die Erfahrung der Ohnmacht in der Schuhwichsfabrik erklären ließe. Zwar hat er das Hypnotisieren nur wenige Male ausgeübt, aber seine gesamte Kunst als Erzähler, Schauspieler und später als Rezitator zielte darauf ab, seine Leser und Zuhörer in Bann zu schlagen. Einen Autor, der das gleiche Interesse und die gleiche Wirkung auf sein Publikum hatte, sollte er 1842 in Amerika kennenlernen, nämlich Edgar Allan Poe, der seinerseits bereits vorher eine Affinität zu Dickens gespürt und als einer der ersten Amerikaner die literarische Qualität des drei Jahre jüngeren britischen Kollegen erkannt hatte. Poe sah im Mesmerismus einen Entdeckungspfad ins Übernatürliche. Darin ist ihm Dickens nicht gefolgt; der hielt am englischen Common Sense fest, auch wenn er wie Hamlet mehr Dinge zwischen Himmel und Erde sah, als sich die Schulweisheit träumen ließ.
Oliver Twist
Was in den
Pickwick Papers
nur in den eingelegten Erzählungen anklingt, bestimmt in
Oliver Twist
den Grundton des Romans. Von jetzt an wird sich Dickens’ Erzählkunst zwischen zwei Polen bewegen: seinem Humor auf der einen und seinem Hang zum Düster-Makabren auf der anderen Seite. In seinem zweiten Roman überwiegt die düstere Seite. Doch es kommt hier noch ein weiteres Moment hinzu, das sich danach immer stärker ausprägen wird. Es ist das Grundschema des Detektivromans. Der Roman beginnt zunächst wie eine Erzählung in der Nachfolge von Fieldings
Tom Jones
. Schon in diesem gab es ein detektivisches Element; denn am Schluss stellt sich heraus, dass Tom als Findelkind von seiner ledigen Mutter zur Vertuschung ihrer Schande auf der Türschwelle des eigenen Bruders abgelegt und von diesem aufgezogen wurde. Doch dieser Aspekt spielt gegenüber dem aufklärerischen Prinzip der Sozialisierung durch Aufnahme von Welterfahrung nur die Rolle eines spannungsfördernden Erzählmotivs. Bei Dickens’ Waisenkind ist das Geheimnis mehr als bloß das Rätsel einer unaufgeklärten Identität.
Zunächst aber durchläuft Oliver Stationen, die an das stereotype Auf und Ab eines barocken Pikaro erinnern. Vom Arbeitshaus, in dem er geboren wurde, kommt er ins Waisenhaus, dann wieder ins Arbeitshaus und danach in die Werkstatt des Leichenbestatters Sowerberry, vor dessen Brutalität er flüchtet, um wenig später in die Diebesbande des Juden Fagin zu geraten. Als ein Kumpan ihm zeigen will, wie man einem Passanten ein Taschentuch stiehlt, wird er verhaftet, doch gleich darauf von Mr. Brownlow, dem Opfer des Diebstahls, gerettet und in die behütete Welt bürgerlicher Wohlanständigkeit aufgenommen. Das Geheimnis um Olivers Herkunft führt nun dazu, dass er gewaltsam ins Verbrechermilieu zurückgeholt wird. Nach einem fehlgeschlagenen Einbruch, zu dem er von dem Gewaltverbrecher Sikes gezwungen wurde, scheint er endgültig gerettet zu sein.
Doch ehe er, nach kurzer Flucht verletzt in einem Graben liegend, dort aufgefunden wird, schiebt Dickens fünf Kapitel ein, in denen andereFiguren des Romans über Oliver reden. In diesen Kapiteln beginnt der Leser zu ahnen, dass ein gewisser Monks dem Helden auf den Fersen ist und dass es um mehr geht als darum, dass der Jude Fagin und der Verbrecher Sikes ein nützliches Bandenmitglied behalten wollen. Nach diesem Einschub, fast genau in der Mitte des Romans, nimmt der Erzähler den unterbrochenen Faden wieder auf. Wenn man jetzt liest, wie der verletzte Held gefunden und in das idyllische Haus der Maylies, in das Sikes einzubrechen versuchte, zurückgebracht wird, weiß man, dass Oliver noch längst nicht gerettet ist; denn nun ist klar, dass ein mit seiner Geburt zusammenhängendes Geheimnis ihn schicksalhaft verfolgt.
Erst am Schluss des Romans wird das Rätsel vollständig gelöst. Brownlows engster Freund war einst von seiner Familie im Alter von sechzehn Jahren aus finanziellen Gründen
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