Charles Dickens
mit einer wesentlich älteren Frau verheiratet worden, die er nach Jahren unglücklicher Ehe verließ, obwohl er einen Sohn mit ihr hatte. Später verliebte er sich in eine junge Frau, die nach seinem Tod seinen illegitimen Sohn Oliver zur Welt brachte. Seine Ehefrau und der zum Verbrecher gewordene Sohn, der den falschen Namen Monks annahm, versuchten mit allen Mitteln zu verhindern, dass Oliver, wie es der Vater in seinem Testament verfügte, in den Besitz von dessen Vermögen kommt. Brownlow, der in langwieriger Detektivarbeit die verbrecherischen Machenschaften von Monks aufdeckte, zwingt diesen schließlich in einem letzten Showdown zum Eingeständnis seiner Schuld.
Monks und seine Machenschaften tragen deutliche Züge des Schauerromans, der als
Gothic novel
im 18. Jahrhundert aufkam und auch zu Dickens’ Zeiten noch populär war. Bereits der Name erinnert an den Roman
The Monk
(1796;
Der Mönch
), der so populär wurde, dass sein Verfasser Matthew Gregory Lewis als Monk-Lewis in die Literaturgeschichte einging. Sicher ging es Dickens in erster Linie darum, seine Erzählung, deren Ende der Leser schon glaubt absehen zu können, noch einmal mit Spannung aufzuladen. Doch wer sein Gesamtwerk kennt, wird spüren, dass schon hier etwas anklingt, was in den späteren Romanen zu einem Grundthema wird. Immer wieder taucht das Motiv einer Erbschaft auf, die den Helden wie ein Schatten verfolgt und in sein Leben hineinwirkt. Meist handelt es sich um eine tatsächliche Erbschaft, die konkret durch ein Testament oder ein gleichwertiges Dokumentrepräsentiert wird. Es kann aber auch ein anderes Schicksalsgewebe sein, in das eine der Hauptfiguren ahnungslos und in der Regel ohne eigene Schuld verstrickt ist. Dickens Romanhelden betreten die Bühne des Lebens nicht wie die von Fielding als
tabula rasa
, sondern als Erben einer unaufgeklärten Vergangenheit, von der sie sich durch Aufklärung und moralische Bewältigung emanzipieren müssen. Man kann darin ein bloßes Spannungsmittel sehen, doch die Obsessivität des Motivs spricht eher dafür, dass Dickens darin seinem eigenen Gefühl Ausdruck verlieh, von einer dunklen Vergangenheit verfolgt zu sein. Er selber empfand sein Kindheitstrauma als eine solche ‹Leiche im Schrank›; und von einem
skeleton in the cupboard
ist in seinen Werken und Briefen mehrfach die Rede.
«Oliver bittet um mehr». Gezeichnet von George Cruikshank.
In
Oliver Twist
wird diese Thematik noch weitgehend durch die Konstruktion eines nicht sonderlich glaubwürdigen Plots verdeckt. Deshalb werden sich Leser des Buches später kaum noch an die umständliche Enthüllung erinnern, wohingegen die Bilder von Fagins Diebeshöhle, von Olivers Gefangenschaft in der Dachkammer und von Sikes’ Mord an Nancy und dessen eigenem Tod wie eingebrannte Fotosim Gedächtnis bleiben. Vor allem die Szene, in der sich Sikes durch einen Sprung aus dem Fenster des düsteren Gebäudes auf Jacob’s Island unfreiwillig erhängt, ist bezeichnend für das Bildinventar von Dickens’ Fantasie. Hier taucht zum ersten Mal die später regelmäßig wiederkehrende Bildkonfrontation des gefängnishaften Hauses mit der Sphäre des Wassers auf, bezeichnenderweise verknüpft mit dem Erbschaftsmotiv. Denn Monks versucht die Beweise von Olivers Identität dadurch zu vernichten, dass er sie in die Themse wirft. Gefängnishafte Häuser, düstere Gewässer und Zeichen für eine ererbte Vergangenheit werden von nun an immer häufiger in Dickens’ Romanen anzutreffen sein, wobei nicht so sehr ihr Erscheinen als vielmehr ihre enge Beziehung zueinander bedeutsam ist.
Neben der dichterischen Kraft zur symbolischen Vertiefung zeigt sich in
Oliver Twist
aber auch schon das, was Dickens’ Erzählkunst bis heute in den Augen seiner Kritiker beeinträchtigt. Es ist sein Hang zum Moralisieren und seine Tendenz, in gefühlvollen Szenen so dick aufzutragen, dass die Sentimentalität für heutige Leser schwer erträglich wird. Der vollständige Titel des Romans lautet:
Oliver Twist: or, The Parish Boy’s Progress
und spielt damit auf John Bunyans
Pilgrim’s Progress
an; doch dessen religiös fundiertes Moralisieren ist bei Dickens ganz ins Soziale verlagert, was allein schon durch das ominöse Wort
parish
signalisiert wird. Dabei trägt seine Sozialkritik bereits Züge, die als typisch viktorianisch gelten. So hält er mit seiner Kritik an der öffentlichen Armenfürsorge in den Arbeitshäusern nicht zurück, lässt andererseits aber auch keinen
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