Charles Dickens
trotz der langen Ahnenreihe in die Mythologie der englischen Alltagskultur ein, sogar noch vor dem Erscheinen der letzten Fortsetzung. Während Fieldings Joseph Andrews und sein Begleiter realistische Figuren bleiben, gewinnt Dickens’ komisches Gespann eine quasi-mythische Allgemeingültigkeit. Die meisten Leser, die sich an die
Pickwick Papers
erinnern, werden Szenen ungetrübter Heiterkeit vor dem inneren Auge haben. Doch wenn das Buch nur aus den komischskurrilen Verwicklungen bestünde, aus denen sich Mr. Pickwick mit Hilfe von Sam Weller herauswinden muss, wäre es wohl ein literarisches Leichtgewicht geblieben. Was ihm Gewicht und Fülle gibt, sind eingestreute Erzählungen, in denen Dickens bereits Kostproben jener Neigung zum Düster-Makabren abliefert, die schon seinen nächsten Roman bestimmen wird. Dass er von Anfang an die Absicht hatte, diese Geschichten in den Roman aufzunehmen, geht daraus hervor, dass er bereits mit Seymour darüber verhandelte, wie sie zu illustrieren seien. Sicher wird dabei auch der Wunsch mitgespielt haben, schon fertige Erzählungen nutzbringend zu vermarkten. Doch sein späteres Werk zeigt deutlich, dass für ihn die Nachtseite des Lebens – z.B. Szenen, in denen Verurteilte auf ihre Hinrichtung warten oder Wahnsinnige von ihren Obsessionen gequält werden – als Gegenpol zu jener heiteren Welt gehören, die heute als typisch
Dickensian
gilt. Die Verbindung von Grauen und Komik ist das, was Dickens mit dem von ihm verehrten Shakespeare gemein hat.
Mit Mr. Pickwick schuf Dickens eine Figur, die als Archetyp des englischen Humors in einer Reihe mit Figuren wie Chaucers Frau aus Bath, Shakespeares Falstaff und Sternes Onkel Toby steht. Die Nähe zu Falstaff wurde bereits von Edward Chapman zum Ausdruck gebracht, der im Verlegergespann für die künstlerische Seite zuständig war. Als Seymour den Helden als dürre Figur zeichnen wollte, protestierte Chapman mit dem Argument: «Echter Humor und Fleisch gehören seit Falstaff zusammen.» Allerdings erlebt Shakespeares amoralischer Fettwanst in Pickwick eine Wiedergeburt als jovialer Viktorianer, eine Verwandlung, in der Sternes Onkel Toby noch als Zwischenstadium zu erkennen ist. Nicht ganz so sprichwörtlich, aber noch immer bekannt blieben bis heute auch Mr. Pickwicks Begleiter Augustus Snodgrass,Tracy Tupman und Nathaniel Winkle sowie Alfred Jingle, der mit seiner Stakkato-Sprechweise und seinen abgewetzten zu kurzen Ärmeln und Hosen an Figuren des Volkstheaters erinnert.
«Erster Auftritt von Sam Weller». Gezeichnet von Phiz (Hablot K. Browne).
Die Handlung des Romans, sofern man von einer solchen überhaupt sprechen kann, besteht in einer schier endlosen Folge von Verwicklungen, deren Schauplatz oft ein Gasthof in London oder einer Provinzstadt ist. Es geht um komische Missverständnisse, die zu einer Duellforderung oder zu einem Prozess wegen eines angeblich gebrochenen Heiratsversprechens führen, um Heiratsschwindel, heimliche Eheschließungen, Verfolgungen und Versöhnungen und immer wieder um komische Unglücksfälle, wenn z.B. Mr. Pickwick beim Eislaufen einbricht, versehentlich in das Schlafzimmer einer Frau stolpert oder betrunken in einer Schubkarre einschläft, worauf er für einen Eindringling gehalten und in das Dorfgehege für entlaufenes Vieh gesperrt wird. Fast alle gesellschaftlichen Einrichtungen werden dabei satirisch an den Pranger gestellt. In Eatanswill ist es die absurd-korrupteWahl eines Parlamentsabgeordneten, beim Rechtsstreit um Mr. Pickwicks vermeintliches Eheversprechen das Rechtswesen und die Geldgier skrupelloser Rechtsanwälte, bei Pickwicks «Theorie über Stichlinge» ist es die Pseudowissenschaft dilettierender Naturforscher, bei seinem Clubkameraden Nathaniel Winkle das angeberische Getue von Sonntagssportlern und bei Augustus Snodgrass der Ehrgeiz von Freizeitpoeten.
«Die Wahl in Eatanswill». Gezeichnet von Phiz (Hablot Knight Browne).
Auch wenn sich Dickens in den Grenzen des moralisch Tolerablen hält, weht durch den Roman noch sehr viel mehr vom Geist des 18. Jahrhunderts als in seinen späteren Werken. In der Darstellung des Wahlkampfs in Eatanswill ist die Nähe zu Hogarth nicht zu übersehen. Die Szene selbst und der Name –
eat
-
and-swill
bedeutet ‹iss-und-sauf› – wirkt wie eine bewusste Anlehnung an den großen Vorgänger, den man als den Dickens des 18. Jahrhunderts bezeichnen kann, so wie Dickens umgekehrt der Hogarth des 19. Jahrhunderts wurde. Neben der
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