Charles Dickens
19. Januar packte ihn erneut die Reiselust, und er ließ sich mit seiner Familie von seinem «treuen Roche», wie er ihn nannte, über Pisa und Siena nach Rom kutschieren, wo die Gruppe elf Tage später ankam und eine Woche blieb. Hier besichtigte er die Sehenswürdigkeiten, ließ sich durch die Katakomben führen und beobachtete das Karnevalstreiben, das just zu der Zeit stattfand. Danach ging es weiter nach Neapel, Pompeji und Herkulaneum. Unter schwierigsten Bedingungen bestieg er mit seiner Frau und anderen Touristen den vereisten Vesuv, wobei ein Trupp von dreißig Reiseführern die kleine Gruppe teils stützte, teils auf Tragbahren emportrug.
Nach der Rückkehr nach Rom wurde Dickens Zeuge einer öffentlichen Hinrichtung per Guillotine, die er mit sonderbarer Kälte beschreibt, als sei es eine Sportveranstaltung, bei der das Publikum seinem Ärger über das verspätete Erscheinen der Wettkämpfer Luft macht. Der Verurteilte wollte nämlich nicht beichten, und ohne Beichte wollte die christliche Gerichtsbarkeit ihn nicht ins Jenseits befördern. Dickens äußerte zwar Abscheu vor dem grausamen Spektakel, konnte aber eine gewisse Faszination nicht verhehlen. In der Karwoche ließ er danach keine Gelegenheit aus, den Papst bei seinen öffentlichen Auftritten zu sehen. So wartete er geduldig auf sein Erscheinen in der Sixtinischen Kapelle und war am Ostersonntag unter den 150.000 – so seine Schätzung –, die auf dem Petersplatz auf den päpstlichen Segen warteten.
Bei seinen Urteilen über die Kunstwerke, die er in Rom besichtigte, war er sehr unorthodox. Im Vorwort zu seinem Reisebericht nimmt er für sich in Anspruch, Kunst nach dem natürlichen Empfinden zu beurteilen und nicht danach, was die Sachverständigen sagen. So äußert er sich über das Jüngste Gericht von Michelangelo kritisch und den Altarraum des Petersdoms vergleicht er mit «einem Goldschmiedeladen oder der Szenerie einer Märchenpantomime». Positiv beeindruckt war er von den Skulpturen Canovas und von einigen Bildern Tizians und Tintorettos. Vor allem aber hatten es ihm Bilder von Guido Reni angetan. Sie brachten die sentimentale Saite in ihm zum Klingen.
Von Rom reiste Familie Dickens über Florenz zurück nach Genua, wo sie am 9. April eintraf. Wie es scheint, verwandte Dickens die zwei verbleibenden Monate seines Sabbatjahrs vor allem darauf,
Oliver Twist
für eine Neuauflage stilistisch zu überarbeiten. Am 9. Juni traten sie schließlich die Heimreise an, diesmal auf dem Landweg, doch nicht über den Simplon-Pass, sondern über den St. Gotthard. Die Schweizer Alpen, die Dickens bei der letzten Überquerung als unwirtliche Schneelandschaft erlebt hatte, begeisterten ihn jetzt in ihrer sommerlichen Schönheit. Schon hier fasste er den Entschluss, seinen nächsten Auslandsaufenthalt in der Schweiz zu verbringen. Über Zürich ging es weiter nach Köln und Brüssel, und am 3. Juli war die Familie wieder in ihrem Haus in Devonshire Terrace.
In seinem Reisebericht
Bilder aus Italien
schwanken seine Urteile über Italien und die Italiener ständig zwischen missbilligenden Äußerungen über Schmutz und Elend auf der einen und Bewunderung für die pittoreske Schönheit auf der anderen Seite. Seinen zwiespältigen, aber doch überwiegend von Sympathie geprägten Gesamteindruck fasst er am Schluss des Buches so zusammen:
Lasst uns von Italien, mit all seinem Elend und seinen Fehlern, in Liebe scheiden, in Bewunderung für seine Schönheiten, die natürlichen wie die künstlichen, von denen es übervoll ist, und in Sympathie für das Volk, das von Natur aus liebenswürdig, geduldig und gutherzig ist. Jahre der Vernachlässigung, der Unterdrückung und der Misswirtschaft haben seine Natur verändert und seinen Unternehmungsgeist reduziert; erbärmliche Eifersüchteleien, angefacht von Duodezfürsten, denen Einheit Ruin und Teilung Stärke bedeuten, waren das Krebsgeschwür an der Wurzel der Nation; sie haben ihre Sprache barbarisiert; doch das Gute, das von jeher in ihr war, besteht fort; und ein edles Volk wird sich eines Tages aus dieser Asche erheben. Lasst uns diese Hoffnung hegen! Und lasst uns darum Italien mit nicht geringerer Achtung im Gedächtnis behalten; denn mit jedem Fragment seiner verfallenen Tempel, mit jedem Stein seiner verlassenen Paläste und Gefängnisse erteilt uns dieses Land die Lehre, dass das Rad der Zeit auf ein Ziel zurollt und dass die Welt, indem sie voranschreitet, im Großen und Ganzen besser,
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