Charles Dickens
komödienhaft angelegt. Sie erinnern teils an Shakespearesche Szenen um Figuren wie Falstaff oder Benvolio, teils an Ben Jonsons
Volpone.
«Mrs. Gamp bringt einen Toast aus». Gezeichnet von Phiz (Hablot Knight Browne).
Weniger klar tritt in dem Roman das zuvor bereits mehrfach aufgezeigte symbolische Grundmuster hervor. Nur das Erbschaftsmotiv steht unübersehbar im Zentrum. Die beiden anderen Symbolkomplexe, das Gefängnis und das Wasser, sind erst bei näherem Zusehen zu erkennen. Wenn man aber weiß, wie oft und geradezu obsessiv Dickens moralische Regenerationserlebnisse mit der Sphäre des Wassers im weitesten Sinne verbindet, wird man unschwer eine solche in den Sümpfen von Eden erkennen, in denen der Titelheld von den verhängnisvollen Folgenseiner großen Erwartungen endgültig geheilt wird und zu sich selber findet. Martin war in Gefahr, zu einem haltlos Treibenden zu werden. Dem stehen die kalten, moralisch verhärteten Menschen gegenüber, die sich in einem Milieu bewegen, das hier zwar nicht durch ein wirkliches Gefängnis, aber doch durch gefängnishafte Züge charakterisiert wird. Am offensichtlichsten wird die Symbolik, als Jonas, Martins moralischer Gegenpol, sich vor dem geplanten Mord in sein Zimmer einschließt und nach der Tat heimlich dorthin zurückkehrt. Hier wird bei der Beschreibung seiner Rückkehr gesagt, dass ihm vor dem Zimmer mehr grauste als vor dem Wald, in dem er die Tat beging. Wer Dickens’ Bildersprache kennt, wird außer den genannten besonders hervorstechenden Beispielen zahlreiche weitere Stellen entdecken, in denen Gefängnis- und Wassermotive kunstvoll kontrastiert werden.
Auch die der Symbolik zugeordnete Charaktertypologie ist klar zu erkennen. Die stabilsten Charaktere, die die Mitte repräsentieren, sind Westlock und Mary Graham, die darum auf den Leser eher langweilig wirken. Während Westlock sich gegenüber seinem früheren Lehrherrn Pecksniff mannhaft behauptet, ist Mary eine der typischen Kindfrauen, die Dickens immer wieder als Ideal darstellt. Als sie vom alten Martin als dessen Gesellschafterin angestellt wird, geschieht dies unter der Bedingung, dass sie von seinem Erbe nichts zu erwarten habe. Diese grundsätzliche Immunität gegenüber der Versuchung von großen Erwartungen macht sie in Dickens’ Augen zu einer würdigen Partnerin für den Titelhelden, der sich ihre Hand seinerseits durch die Emanzipation von den eigenen großen Erwartungen verdient hat. Der alte Martin, der in seinem Menschenhass erstarrt zu sein scheint, verlässt am Schluss sein moralisches Gefängnis und gibt der Ehe seines Enkels seinen Segen. Jonas endet auf dem Weg ins Gefängnis durch Selbstmord, und sein Opfer, der skrupellose Spekulant Tigg, endet in einem feuchten Wald, wo seine Leiche «triefend und sich vollsaugend auf einem Kissen von Blättern in den sumpfigen Untergrund einzusinken begann». Das ist der Kontrapunkt zur Regeneration des Titelhelden in den Sümpfen von Eden. Wie konsequent Dickens solche Bilder einsetzte, lässt sich gerade dort beobachten, wo die Motive scheinbar beiläufig auftauchen. So bekommt beispielsweise Jonas auf dem Weg zu seiner Mordtat von einem Kutscher, der sein Gesicht kritisch musterte, zu hören: «Du wirst nicht ertrinken. Damit kannst du dich trösten.»
Italienische Reise
Juli 1844 bis Juni 1845
Als
Martin Chuzzlewit
abgeschlossen und die Finanzierung der Italienreise durch den Vertrag mit den neuen Verlegern gesichert war, kaufte Dickens eine große gebrauchte Reisekutsche, die Platz für die siebenköpfige Familie, die Schwägerin und drei weibliche Bedienstete bot und heuerte den Franzosen Louis Roche an, der ihn als Kutscher und Reiseführer nach Italien bringen sollte. Dann vermietete er sein Haus am 28. Mai an eine zahlungskräftige Witwe und zog bis zu seiner Abreise in eine Mietwohnung.
Am 1. Juli 1844 brach der Tross auf. Nach Überquerung des Kanals ging es von Boulogne weiter nach Paris, wo die Reisenden zwei Tage blieben. Obwohl Dickens die Hauptstadt Frankreichs in seinem Reisebericht nur mit einer halben Seite bedenkt, muss sie ihn bei seinem ersten Besuch tief beeindruckt haben; denn später reiste er immer wieder dorthin und blieb oft mehrere Monate. Von Paris ging es weiter über Chalon nach Lyon und von dort rhoneabwärts zuerst nach Avignon und dann nach Marseille, wo der Reisewagen auf ein Schiff verladen und mitsamt den Passagieren nach Genua gebracht wurde. Hier hatte sich Dickens von Angus Fletcher, der sich
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