Charles Dickens
diesen Roman nun wieder durchgängig prägt, jetzt aber mit deutlich mehr Tiefgang. Über
Pickwick
strahlte die aufgeklärte Heiterkeit des 18. Jahrhunderts, in
Chuzzlewit
spürt man die beißende Satire Ben Jonsons und den Geist Shakespeares.
Dickens hatte, wie sein Freund Forster berichtet, den Roman von Anfang an als umfassende Satire auf die menschliche Selbstsucht geplant. Die zentrale Verkörperung dieses Themas ist der Heuchler Seth Pecksniff, ein Charakter, der seitdem zu den großen Typen der Weltliteratur zählt. Um Pecksniff herum gruppieren sich zahlreiche Figuren, die unterschiedliche Abstufungen von Selbstsucht, Geldgier oder bloßer Egozentrik darstellen. Doch wenn sich Dickens mit einer Typenkomödie begnügt hätte, wie Ben Jonson sie in seinen so genannten
comedies of humour
schuf, wäre sein Roman eine Satire geblieben und würde heute nicht als eine Komödie mit Tiefgang gelten. Dazu wird er unter anderem durch Pecksniffs Gegenpol Mrs. Gamp. Diese schlampige, ewig angetrunkene, unaufhörlich redende und dabei mit absurder Logik auftrumpfende Frau stellt wie ein weiblicher Falstaff der kalten Welt der Geldgier eine vitale Fleischlichkeit entgegen. Dabei hat Mrs. Gamp, die sich ständig auf ihre nie auftretende Freundin Mrs. Harris beruft, kaum etwas mit der eigentlichen Handlung zu tun; und der geringe Raum, den sie im Roman einnimmt, steht in keinem Verhältniszu dem Eindruck, den sie in der Erinnerung der Leser hinterlässt. Durch ihren Beruf als Hebamme und Leichenwäscherin wirkt sie wie eine symbolische Brücke zwischen Geburt und Tod.
Dass es auch in diesem Roman um Erbschaft geht, wird bereits durch den vollen Titel angekündigt. Der Erblasser, auf dessen Ableben die meisten Mitglieder der Familie wie die Aasgeier warten, ist der Großvater des Titelhelden, der den gleichen Namen trägt. Der Alte spielt in Dickens’ bitterer Komödie der Selbstsucht eine ähnliche Rolle wie der Titelheld in Ben Jonsons
Volpone
, nur dass er nicht wie dieser aus Gewinnstreben handelt, sondern die Selbstsucht der anderen düpieren will, wobei er selber zum verbitterten Egozentriker wird.
Die Handlung beginnt im Haushalt des Architekten Pecksniff und seiner beiden Töchter Mercy und Charity, deren Namen bereits das Heuchlerische ihres Vaters zum Ausdruck bringen. Dort taucht später der junge Martin Chuzzlewit auf, um sich von Pecksniff ausbilden zu lassen. Doch Martin merkt bald, dass der von öligem Moralismus triefende Lehrherr ein Egoist ist, der seine Angestellten schamlos ausnutzt. Während sich die weitere Pecksniff-Handlung um die Eheabsichten seiner Töchter Mercy und Charity und um Pecksniffs eigene Erbschleicherei dreht, überwirft sich Martin mit dem Heuchler, geht nach London und fasst gemeinsam mit dem gutmütigen und tatkräftigen Mark Tapley den Entschluss, nach Amerika auszuwandern. Dort werden seine großen Erwartungen bitter enttäuscht. Er erlebt eine neue Welt, in der die ganze Gesellschaft von Selbstsucht infiziert ist. Seine Desillusionierung erreicht den Gipfel, als er sich von einem Agenten der
Valley of Eden Land Corporation
ein Stück Land aufschwatzen lässt, das den Namen Eden trägt und sich als trostloser Sumpf entpuppt. Martin erkrankt an schwerem Fieber und erlebt die lange, beinahe tödlich verlaufende Krankheit, die er nur dank Mark Tapleys selbstloser Hilfe übersteht, als innere Wiedergeburt. Danach hat er Gelegenheit, an dem nun ebenfalls erkrankten Tapley die gleiche Selbstlosigkeit zu beweisen.
Nach dem Fehlschlag in Amerika kehren Martin und Tapley nach England zurück. Dort haben inzwischen die Erbschaftsintrigen kriminelle Formen angenommen. Jonas Chuzzlewit, der skrupellose Neffe des alten Martin, hat – so glaubt er – mit Gift den eigenen Vater umgebracht, um ihn schneller zu beerben. Ganz zum Schluss stellt sich allerdings heraus, dass der Vater das Gift bemerkte und an einem Herzschlagstarb. Die frivole Mercy Pecksniff (genannt Merry), die mit ihrer ernsthafteren, aber genauso berechnenden Schwester Charity (genannt Cherry), um Jonas konkurrierte und ihn heiratete, erlebt noch vor dessen Tod ihre Ehe als Fiasko. Jonas selber, der den skrupellosen Spekulanten und Betrüger Montague Tigg ermordete, nimmt nach seiner Verhaftung Gift. Die schlimmsten Übeltäter haben so ihre gerechte Strafe bekommen, und die Guten werden wie in einer echten Komödie mit der Hand einer Geliebten belohnt. Die in England spielenden Teile des Romans sind größtenteils
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