Charles Dickens
eine Spritztour, diesmal nach Paris, wo der Karneval die Aussicht auf Ausschweifungen bot, die er sich in London nicht leisten konnte, ohne seine Reputation als moralische Autorität zu gefährden. Collins führte das Leben eines Bohemiens. Wegen einer chronischen Arthritis hatte er schon früh mit dem regelmäßigen Konsum von Opium begonnen und kannte sich infolgedessen im Milieu der Opiumhöhlen und Bordelle bestens aus. Er führte auch später kein bürgerliches Leben, heiratete nie, lebte zeitweilig mit einer Witwe und deren Tochter zusammen und hatte mit einer anderen drei uneheliche Kinder. Für Dickens war er in dessen Midlife-Krise das Gegengewicht zu John Forster, der immer mehr den Habitus eines sittenstrengen saturierten Bürgers kultivierte.
Wilkie Collins (1850). Porträt von Sir John Everett Millais.
In Paris scheinen sich die Rollen der beiden umgekehrt zu haben: der literarische Zögling wurde jetzt zum Cicerone, der den bewunderten Meister in die Welt des Lasters einführte. Diese Welt war Dickens auch vorher nicht unbekannt, aber er scheint sie erst in diesen Krisenjahren ausgiebiger genossen zu haben. In welchem Umfang er das tat, ist strittig. Manche Anspielungen in seinen Briefen klingen eher nach Maulheldentum. Seine moralischen Wertvorstellungen wurden durch solche Abenteuer jedenfalls nicht erschüttert, doch die Kenntnis der Nachtseite der Gesellschaft bestärkte ihn in seiner Toleranz gegenüber Gefallenen, insbesondere gegenüber gefallenen Frauen. Vor allem aber verschafften ihm die Ausflüge in die Halbwelt visuelle Eindrücke des Milieus, die er danach in seinen Romanen verarbeitete.
Am Tage vor der Abreise nach Paris wurden seine erotischen Gefühlenoch auf andere Weise aufgestört, als ihn ein Brief seiner Jugendliebe erreichte. Maria Beadnell, die mit Henry Louis Winter, dem Manager eines Sägewerks, verheiratet war, schrieb, vermutlich aus Eitelkeit, ihrem inzwischen berühmten Verehrer von vor 22 Jahren, dass sie ihn gern wiedersehen würde. Der Brief ist nicht erhalten, doch seine Wirkung lässt sich daran ablesen, dass Dickens ihr innerhalb von zwei Wochen vier längere Briefe zurückschrieb. Der erste beginnt noch mit
My Dear Mrs. Winter
und endet mit
Faithfully your friend
; doch schon im dritten geht er zur Anrede
My dear Maria
und zur Grußformel
Ever your affectionate friend
über. Beim Lesen dieser Briefe spürt man, wie die alten Liebesgefühle in ihm von neuem lebendig werden. Gegen ihren Vorschlag, sich mit ihm in der Stadt zu treffen, wendet er ein, dass sie dabei gesehen werden könnten. In Frageform schlägt er vor, dass sie zu ihm ins Haus kommen und dabei zuerst nach seiner Frau fragen solle, fügt aber hinzu, dass seine Frau zur vorgeschlagenen Zeit höchstwahrscheinlich nicht im Haus sein werde. Das klingt wie die Einladung zu einem Abenteuer.
In Paris kaufte er ihr ein Geschenk, und nach seiner Rückkehr schickte er, um der Wiederbegegnung einen unverdächtigen Anstrich zu geben, seine Frau zum Ehepaar Winter, um eine Einladung an beide zu überbringen. In den Briefen, die dem Wiedersehen vorausgehen, spürt man, wie er einerseits um die Wahrung seines guten Rufs bedacht ist und andererseits mit Frühlingsgefühlen dem Treffen entgegensieht, das am 25. Februar stattfinden sollte. Das erotische Flair von Paris wird seine Gefühle in dieser Hinsicht noch bestärkt haben. Doch seine Erwartungen wurden bitter enttäuscht. Aus der koketten jungen Frau, die ihm einst den Kopf verdrehte, war eine redselige Matrone geworden. Für Dickens’ Frau mag diese Enttäuschung ein Trost gewesen sein, doch für ihn selber war es ein weiterer Schatten, der sich auf sein Leben legte und ihm bewusst machte, dass die besten Jahre hinter ihm lagen.
Der einzige Mensch, den er in dieser Zeit in sein Herz schauen ließ, war Forster. Der beschreibt später in seiner Biographie die Jahre nach
David Copperfield
als eine Zeit, in der Dickens immer ruheloser wurde, von Ablenkung zu Ablenkung hetzte und in wachsendem Maß das Gefühl hatte, das wahre Glück seines Lebens verpasst zu haben. Da von den über tausend Briefen, aus denen Forster oft ohne Angabe desDatums zitiert, nur 55 erhalten sind, lässt sich anhand der Zitate keine genaue Chronologie der Krise des Dichters erstellen. Die folgenden Briefstellen lassen aber spüren, wie es in Dickens’ Innerem aussah. So schrieb er bereits Ende September 1854 (vermutlich am 29.) aus seinem Urlaubsort Boulogne an Forster:
Ich male mir
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