Charlie + Leo
Sicherheit der absolute Horror für sie, das gäbe ein wahres Papiertüten-Massaker.
Ich drehe mich zu Marie um. Sie hat ihre Tüte bereits im Anschlag.
»Einen ernsthaften Vorschlag, bitte Lazlo«, stöhnt Schubert und verdreht genervt die Augen.
»Was denn?«, erwidert Lazlo. »Das war ernst gemeint. Oder wollen Sie etwa behaupten, Marie wäre nicht als Klassensprecherin geeignet, nur weil sie ab und zu mal ein bisschen Panik kriegt?«
»Nein, natürlich nicht!«, wehrt sich Schubert. »Aber vielleicht sollten wir Marie erst mal fragen, ob sie überhaupt damit einverstanden ist? Hm, Marie? Möchtest du gern Klassensprecherin werden?«
Alle Blicke sind auf Marie gerichtet, die hektisch in ihre Tüte atmet und den Kopf schüttelt.
»Ach, die hat doch nur Panik, dass sie die Wahl verliert«, sagt Lazlo. »Fragen wir sie lieber hinterher noch mal. Nein sagen kann sie ja dann immer noch. Los, schreiben Sie sie an die Tafel.«
Schubert dreht sich seufzend um und schreibt Maries Namen an die Tafel.
»Sonst noch Vorschläge?«, fragt er in die Runde, aber niemand meldet sich.
»Dann wäre Marie also unsere einzige Kandidatin«, stellt Schubert fest.
»Und somit gewählt!«, triumphiert Lazlo.
Tosender Applaus und Jubel. Nur bei Marie nicht. Sie atmet so heftig in ihre Tüte, dass sie gleich mit einem lauten Knall zu platzen droht.
»Jetzt jubelt mal nicht zu früh!«, brüllt Schubert. »Marie hat schließlich noch nicht zugestimmt! Wenn sie die Wahl nicht annimmt, muss ich einen Klassensprecher bestimmen.«
Der Jubel verstummt.
»Also, wie sieht’s aus, Marie?«, fragt Schubert. »Nimmst du die Wahl an?«
Die Tüte bläht sich dreimal kurz nacheinander zu voller Größe auf, dann bleibt sie bewegungslos und platt zusammengeschrumpft vor Maries Mund hängen. Marie hat aufgehört zu atmen. Für eine gefühlte Ewigkeit scheinen alle in der Klasse mit ihr zusammen die Luft anzuhalten. Dann schüttelt sie kurz, aber heftig den Kopf und die Tüte bläht sich wieder auf.
Enttäuschtes Seufzen und Ächzen und Fluchen erfüllt den Raum.
»Moment!«, ertönt eine weibliche Stimme aus Maries Richtung, aber es ist nicht Mari e – es ist Leo.
Plötzlich bin ich hellwach.
»Dürfte ich kurz mit meiner Mandantin allein reden?«, fragt sie und klingt wie eine Anwältin aus einer dieser Gerichtsshows.
Schubert sieht sie verständlicherweise sehr verwirrt an.
»Ä h … j a … natürlic h …«, stammelt er.
»Danke, Euer Ehren«, sagt Leo nickend und wendet sich Marie zu, deren Atemfrequenz sofort ansteigt.
Leo beugt sich an Maries Ohr und flüstert ihr etwas zu. Marie schüttelt energisch den Kopf. Leo rückt mit ihrem Stuhl ein Stück näher und flüstert weiter. Marie schüttelt wieder den Kopf und bläst die Tüte auf. Leo greift mit einer Hand nach der Tüte, drückt die Luft heraus und flüstert wieder etwas in Maries Ohr. Marie nickt zaghaft.
»Euer Ehren«, sagt Leo zu Schubert. »Nach reiflicher Überlegung hat sich meine Mandantin nun doch dazu entschlossen, das Amt der Klassensprecherin für die Dauer eines Schuljahres zu übernehmen.«
»Stimmt das, Marie?«, fragt Schubert.
Marie sieht Leo an, Leo starrt geradeaus Richtung Tafel, dann niest sie plötzlich laut. Marie zuckt erschrocken zusammen und bläst nickend ihre Tüte wieder auf.
»Gut«, sagt Schubert. »Dann soll es so sein. Marie ist eure neue Klassensprecherin.«
Während die ganze Klasse erneut applaudiert und jubelt, werfe ich einen Blick auf Leo. Sie lehnt entspannt in ihrem Stuhl, hat die Arme hinter dem Kopf verschränkt und ein leichtes, ganz feines Lächeln umspielt für einen Sekundenbruchteil ihre Mundwinkel. Ha! Das schlechtgelaunteste Mädchen der Welt hat gelächelt und ich habe es gesehen! Nur schade, dass sie es nicht meinetwegen getan hat. Aber warum sollte sie auch? Ach ja, weil ich ihr so ein tolles Bild geschickt habe! Um sie zum Lächeln zu bringen! Aber anscheinend reicht das nicht, anscheinend muss man sich erst zum Klassensprecher wählen lassen, damit sie für einen lächelt! Mist, verdammter.
Es würde mich ja mal brennend interessieren, was sie zu Marie gesagt hat, um sie umzustimmen. Ich hätte nicht gedacht, dass das jemand schafft. Aber das kriege ich raus, gleich in der nächsten Pause. Marie hat vor mir nicht allzu große Panik, weil ich sie nie ärgere. Bestimmt erzählt sie es mir.
»So«, sagt Schubert. »Nachdem das Organisatorische nun geklärt ist, können wir endlich zum Unterricht kommen. Als
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