Charlotte Und Die Geister Von Darkling
bemühte, den Blick nicht auf seinen Freund zu richten.
Die Musik verklang, und im Saal wurde es still. Die Harfenspieler begannen die Saiten ihres Instrumentes zu zupfen, bis die produzierten Töne nach dem Hochzeitsmarsch klangen. Lily Darrow stand in einem aufwendigen weißen Hochzeitskleid am Eingang des Ballsaales. Sie schritt den Gang entlang. Als sie den Abschnitt erreichte, in dem wir saßen, wandte sie sich uns mit einem schwachen Lächeln zu.
»Tu es nicht, Mutter«, flüsterte James ihr laut genug zu, dass alle es hören konnten. Lily blickte zu den Kindern und dann zu Henry. Mr. Whatley wurde merklich ungeduldig am Ende des Ganges. Sie wandte sich wieder ihm und ihrem Weg zu. Mr. Whatley bedachte die Buben mit einem finsteren, triumphierenden Blick. Ich zog das Messer mit der schmalen Klinge, dasich dem Wegelagerer abgenommen hatte, aus dem Kleid hervor.
»Vertraust du mir?«, fragte ich Henry.
»Natürlich.«
»Dann bleib an meiner Seite und hilf mir mit den Kindern.«
»Was hast du …?«
Ich holte tief Luft und stieß mir mit vor Überzeugung bebenden Händen das Messer tief in die Brust. Das Gefühl war anders, als ich gedacht hatte. Ich hatte mir mehr Schmerz, mehr Entsetzen vorgestellt, doch es war alles ganz gefühllos. Die Welt verlangsamte sich, und ich sank in Zeitlupe in Henrys Arme. Lily wandte sich um, um zu sehen, was geschehen war, und der Schleier ihres Kleides wogte vor ihren Augen, einen Schritt hinter dem Lauf der Zeit. Sie lief den Gang zurück zu mir. Ich schob die Kapuze aus meinem Gesicht. Die Menge erhob sich, um das Chaos genauer zu sehen; verschwommene Gestalten standen am Rande meines Blickfeldes, die mir irgendwie vertraut erschienen, die ich aber nicht deutlich genug sehen konnte …
Sie waren freudig erregt.
Ich vernahm Mr. Whatleys Stimme deutlich in der Menge. Er wollte wissen, was geschehen war, denn es gelang ihm trotz seiner unnatürlichen Größe nicht, über das Gedränge hinweg zu blicken. Henry hielt mich hilflos in seinen Armen und versuchte, die Kinder zu beruhigen, die außer sich waren vor Entsetzen.
»Es wird alles gut«, versuchte ich halb erstickt sie zu trösten, während mir Blut in den Mund zu rinnen begann. »Schaut!«
Draußen hatte sich ein Sturm zusammengebraut. Der Mond war hinter wogenden schwarzen Wolken verschwunden, die vom Himmel hinab auf den Horizont quollen und in einem eisigen, tosenden Wirbel über die trostlosen Hügel der Endwelt brandeten. Schließlich prallten sie gegen die Fenster, die ob des Druckes nach innen zersplitterten. Die Feuervögel löschten ihrFeuer, und die Lichter im Saal gingen aus. Ein Tor aus purer Nacht tat sich vor uns auf und herein trat die Gestalt eines Mannes ganz in Schwarz.
Ich hatte den Tod in die Endwelt gerufen.
Einige der Hochzeitsgäste begannen, Tränen der Freude zu vergießen, während andere in Ehrfurcht niederknieten.
»Das ist wirklich nicht notwendig«, sagte der Mann und trat vorwärts. Mr. Samson erschien neben ihm.
»Wir heißen Euch in der Endwelt willkommen, mein Lord.«
»Das ist zwar sehr freundlich von euch, aber ich bin niemandes Lord, und ich fürchte, es gibt wichtigere Dinge, die meiner Aufmerksamkeit bedürfen.« Er musterte mich und Lily auf dem Boden. Eine Blutlache breitete sich vor uns aus und rötete den Saum ihres weißen Kleides. Der Mann beugte sich über mich und betrachtete meine Wunde. »Können wir es herausziehen?«
Ich nickte Lily zu, und sie zog das Messer aus meinem Oberkörper. Ich zuckte keuchend zusammen. Vor Schmerzen verlor ich fast das Bewusstsein, aber ich biss die Zähne zusammen und ertrug sie.
»Na also, besser so?«, fragte er trocken. Wären nicht diese Schmerzen gewesen, hätte ich laut aufgelacht. »Nun, dann betrachten wir das Problem. Eine von euch ist schon einige Zeit tot, und die andere stirbt an einem Ort, wo der Tod noch nie zuvor eingetreten ist. Was mache ich nur mit euch beiden?«
Ich setzte mich auf, und ein Schwall Blut ergoss sich über meine Brust hinab.
»Wenn ich einen Vorschlag machen darf, Sir, es gibt nur eine vernünftige Lösung.«
»Und die wäre, Mrs. Markham?«, fragte der Mann. Bei der Nennung meines Namens wich die Menge zurück, und Mr. Whatley hatte endlich freien Blick auf mich und seine Verlobte.Er riss die Augen auf und war, wohl zum ersten Mal seit langer, langer Zeit, sprachlos.
»Eine Seele muss geholt werden«, fuhr ich fort. »Lily ist gestorben, aber nicht ganz, und ich kann an diesem Ort nicht
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