Charlotte Und Die Geister Von Darkling
musstet.« In seinen Augen glaubte ich zu sehen, dass er Mitleid mit mir empfand.
»Wir waren doch nicht allein. Mutter war hier und Mr. Whatley.« Mir fiel auf, dass er mich nicht berichtigt hatte, aber dazu hatte er auch keinen Grund. Es war meine Schuld, dass das Tor zwischen Everton und Darkling geschlossen worden war, aber dass er es ebenso sah, machte die Veränderungen, die seit unserem letzten Beisammensein in seiner Persönlichkeit vorgegangen waren, nur noch deutlicher. Er hatte begonnen, erwachsen zu werden.
»Hat euch Mr. Whatley etwas angetan?«, fragte ich und suchte in seinen Zügen nach Spuren von Missbrauch.
»Aber nein. Er beschützt uns.«
»Wovor?«
»Seinen Freunden.«
Ich befand mich plötzlich in der seltsamen Lage, dem Herrn von Darkling dankbar sein zu müssen. Duncan ließ mir keine Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen. Er schob uns alle aus der Kammer in die klaustrophobische Dunkelheit des anderen Raumes. Wir zogen unsere Kapuzen in die Gesichter und folgten ihm schweigend. James nahm seinen Vater an der Hand, während wir den anderen Hochzeitsgästen begegneten: unheimlichen Gestalten in Umhängen wie den unseren, menschenähnlichen Kreaturen wie Mr. Whatley, Samson und allen anderen ihrer Gesellschaft. Duncan führte uns in die Eingangshalle des Hauses und durch das Tor hinaus in die frische Nachtluft.
Die Kutschen waren in einem Ring um den Sternenbrunnen abgestellt. Zwischen ihnen sahen wir die Silhouetten zweier Gestalten vor den zuckenden elektrischen Strömen, die von einem Stab zum nächsten sprangen. Paul und Dabney zupften mit geröteten Gesichtern ihre Kleidung und ihre Frisur zurecht, als sie uns so plötzlich auftauchen sahen. Dabney entschuldigte sich.
»Bis nach der Zeremonie.«
Paul nickte und beäugte dann die beiden verhüllten Gestalten neben seinem Bruder und Duncan.
»Komm mit, Paul«, sagte ich.
Er starrte uns verständnislos an, bis wir nah genug waren, dass er unsere Gesichter sehen konnte.
»Du warst so lange fort, dass ich dachte, wir würden hier nie wieder fortgehen …«, stammelte er und rieb seinen Hinterkopf, als müsse er eine Entscheidung treffen.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte ich.
»Dabney geht fort, um seine Ausbildung bei Mr. Speck anzutreten.«
»Tut mir leid.« Ich legte den Arm um seine Schultern. »Ich weiß, wie nahe ihr euch gestanden habt.«
Er sah mich vollkommen überrascht an. »Das weißt du?«
»Tiefe Freundschaft findet man selten im Leben.«
»Ja … natürlich.« Er entspannte sich, und der überraschte Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht. »Ich wusste ja, dass er eines Tages fortgehen würde, aber ich dachte, wir hätten mehr Zeit. Ich hätte nie geglaubt, dass ich nach Mutters Tod wieder glücklich sein könnte, aber mit Dabney war ich es.« Paul lächelte. Es war kein Schmunzeln und nicht das gewinnende Lächeln, mit dem jemand höflich sein will, sondern der Ausdruck purer Freude. Die Traurigkeit, die ich so lange an ihm kannte, war von ihm gewichen. »Kommt Mutter mit uns?«
Henry und ich sahen uns an.
»Wir können sie nicht hier zurücklassen«, sagte Paul.
»Das werden wir auch nicht. Überlasst alles mir«, sagte ich entschieden. Ich schlug die Kapuze meines Umhanges zurück, als uns Duncan zurück ins Haus und die Treppe hinab in den Speisesaal führte, wo die Gäste eben erfahren hatten, dass die Hochzeit nun beginnen würde.
Eintausend Hochzeitsgäste in Kapuzengewändern strömten in den Ballsaal, der üppig für das Fest dekoriert worden war. Silberne Käfige hingen von der Decke, in denen sich Vögel mit Federn aus Feuer befanden. Melancholische Musik erklang von einer sechs Meter langen Harfe, die von einem Dutzend Musikern zusammen gespielt wurde, von denen manche auf Leitern standen. Die Darrows und ich nahmen in der zweiten Reihe Platz, worauf sich Duncan verbeugte und zurückzog. Auf der anderen Seite des Mittelganges unterhielt sich Olivia kokett mit einigen der jüngeren Gäste, hin und wieder verhalten lachend und gespielt entrüstet über eine allzu freche Bemerkung. Ihr Blick glitt über uns, ohne innezuhalten. Sie blickte mit einem sorgfältig eingeübten nichtssagenden Lächeln, das nur ihre Augen entlarvten, auf ihren Vater. Whatley trat mit einem siegessicheren Grinsen vor den Mittelgang. Dabney stand in einer wallenden zeremoniellen Robe neben ihm, die, wie ich annahm, dem Messgewand eines Pfarrers entsprach. Ich sah zu Paul hinüber; dabei entging mir nicht, wie sehr er sich
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