Charlotte Und Die Geister Von Darkling
den Obstgarten, und jenseits davon konnte ich das hell erleuchtete Darkling-Haus sehen. Viele andere Kutschen waren jetzt aufder Straße. Sie bildeten eine lange Reihe bis zum Vordereingang bei dem Sternenbrunnen. Duncan reihte sich nicht ein. Er fuhr durch das hohe schwarze Eisentor, vorbei an menschlich aussehenden Wachen, die uns durchwinkten, und schließlich hinten herum zum Dienstboteneingang, wo Henry und ich Arm in Arm das Haus von Darkling betraten.
NEUNZEHNTES KAPITEL
Der Mann in Schwarz
Die Schattenseite des Herrenhauses war ein Gewirr von Korridoren und Räumen, in denen schuftende Dienstboten schwitzten und sich verzweifelt bemühten, dem ständigen ungeduldigen Glockengeläute und damit den Wünschen und Bedürfnissen der oben feiernden Hundertschaften an Gästen gerecht zu werden. Duncan gestattete uns nicht zu bleiben, sondern führte uns weiter, bis wir den zentralen Bereich des Hauses verließen und den Flügel erreichten, in dem die Kinder und ich während unserer Besuche geschlafen hatten. Zu meiner Überraschung öffnete er die Tür zu meiner Unterkunft und schob uns hinein.
Eine Frau stand mitten im Zimmer mit dem Rücken zu uns. Sie trug ein weißes Gewand, das von einem elfenbeinfarbenen Spitzenmieder über die Rundungen ihres Körpers hinab in einen Ring von Seide auf dem Boden floss. Ein Schleier verbarg ihr Gesicht, aber Henry erkannte sie sofort wieder.
»Lily …«, sagte er atemlos
»Henry?« Sie klang müde und traurig, aber ihre Stimme versagte ihr ganz, als sie sich umdrehte und dem Blick ihres Mannes begegnete. Er tat einen Schritt vorwärts, dann noch einen und einen weiteren, als bewege er sich auf einen Traum zu, vorsichtig, um ihn so lange wie möglich festzuhalten, bevor er ihm entglitt. Als er bei ihr war, schlug er den Schleier zurück und streichelte ihr Gesicht. Sie zitterte und griff nach seinem Handgelenk. So verharrten sie reglos, versunken in ein lautloses Zwiegespräch ihrer Blicke. So sahen sie einander tief in ihre Herzen.
Bei ihrem Anblick konnte ich mich eines kleinen Stiches von Eifersucht nicht erwehren, auch wenn ich mir vor Augen hielt, dass sie noch immer ein Ehepaar waren. Ein Schatten von Trauer glitt über Lilys Gesicht.
»Ich fürchte, dass du bereits zu spät kommst.« Sie deutete auf ihr Hochzeitskleid. Henry schien es zum ersten Mal wahrzunehmen und wich verwirrt zurück.
»Das kann nicht sein. Das darfst du nicht.«
Darauf gab Lily keine Antwort. »Nach unserem letzten Gespräch schickte ich Duncan, um euch zu holen, damit ihr die Kinder nach Hause bringen könnt. Sie gehören nicht hierher.«
»Sie ebenso wenig. Kommen Sie mit uns«, sagte ich.
»Das haben wir schon einmal versucht, schon vergessen? Sie werden mich niemals fort lassen. Ich bin die Einzige in der Endwelt, die je gestorben ist. Sie verehren mich, und Whatley wird mich heiraten.«
»Du verdienst Frieden, meine Liebste.«
»Ich bekomme genau, was ich verdiene«, sagte sie bitter. »Ich bin so froh, dass du gekommen bist, Henry. Ich hatte mir so sehr gewünscht, dich noch einmal zu sehen, und das war mir nun vergönnt. Aber sie werden mich bald holen kommen. Ich halte es für das Beste, wenn ihr jetzt geht.«
»Wir können Ihnen helfen, Lily«, sagte ich.
»Wie? Was könntet ihr denn schon tun?« Als ich nicht antwortete, wandte sie sich ab. »Bringt die Kinder zurück.« Ihre Stimme versagte fast bei diesen Worten. Sie nickte Duncan zu. Er ging zum Kleiderschrank und nahm zwei schwarze Umhänge heraus und legte sie uns an. Die Kapuzen hingen tief in unsere Gesichter. Lily reichte mir einen silbernen Schlüssel, ohne mich anzusehen.
»Ihr mögt ein Tor nach Everton in Mr. Whatleys Arbeitszimmer finden. Aber ich habe keine andere Wahl.«
»In diesem Punkt irren Sie sich.« Ich steckte den Schlüssel in die Falten meines Kleides. »Es gibt eine Alternative zur Endwelt.«
»Der Tod schenkt uns seine Gunst nur einmal, wenn überhaupt. Bitte, geht jetzt. Die Zeremonie wird bald beginnen, und ihr solltet euch besser auf die Suche nach den Kindern machen.«
Wir bedrängten sie, aber sie wollte nicht hören und fuhr fort, sich auf ihre Hochzeit vorzubereiten. Ich zog Henry widerwillig aus dem Zimmer, doch als wir hinausgingen, sprach er ein letztes Mal zu ihr.
»Ich liebe dich.«
Sie beobachtete uns in ihrem Frisierspiegel, sagte aber kein Wort mehr, als sie uns nachblickte. Ich glaubte, ich hätte Tränen in ihren Augen gesehen, aber Duncan führte uns bereits auf
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