Charlotte
dabei.«
»Elisabeth Bonnette ist am 17. Mai dieses Jahres ertrunken. Darüber muss man sich wahrscheinlich im Rathaus von Oosterbeek erkundigen, vielleicht aber auch bei der Polizei in Arnheim.«
»Ich kriege das schon raus. Wann kommst du nach Hause?«
Familienleben. »Früh genug, um Hanna mit einer Gruselgeschichte ins Bett zu bringen.«
6
Auf einem der größeren Hausboote spielte jemand Klavier. Ein gepflegtes, leicht abfallendes Rasenstück zog sich hinunter bis zu einer breiten Laufplanke, die zur Haustür in der Mitte des Bootes führte. Blumenkästen mit blühenden Geranien und Fuchsien hingen auf beiden Seiten der Reling. Durch ein Seitenfenster aus kleinen Bleiglasscheiben fiel mein Blick auf eine blonde Frau, die mit dem Rücken zu mir in einem großen hellen Raum am Klavier saß. Ich klopfte an die Scheibe. Die Frau schlug vor Schreck einen falschen Akkord an und schaute sich um. Kurz darauf öffnete sie die Tür.
»Guten Tag, Mevrouw, ich bin auf der Suche nach Charlotte Bonnette, sie muss auf einem der Boote hier wohnen.«
Ihr Lächeln hatte etwas Mitleidiges. »Ja, aber nicht hier. Ihr Boot liegt ein Stückchen weiter hinten. Sie ist aber im Moment nicht zu Hause.«
»So ein Pech. Ist sie in der Schule?«
»Nein, leider nicht. Sie jobbt bei Albert Heijn in Oosterbeek. Ihre Mutter ist zwar erst vor kurzem gestorben, aber das arme Kind hat praktisch gleich danach wieder angefangen zu arbeiten.«
»Manchmal hilft das ja ein bisschen, sich abzulenken«, meinte ich. »Sie kennen sie also?«
»Ja, Lotje war oft unser Babysitter.« Sie schaute mich vorwurfsvoll an. »Sie ist ein liebes Mädchen, und ich bezweifle, dass sie sich so leicht davon ablenken kann, dass ihre eigene Mutter ertrunken ist.«
»Warum geht sie nicht mehr zur Schule?«
»Sind Sie Sozialarbeiter?«
Ich lächelte halb bejahend. »Ich erkundige mich ein wenig über ihre Lebensumstände, für die Familie ihrer Mutter.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Das wäre ja nett, wenn die sich zur Abwechslung mal ein bisschen um sie kümmern würden. Charlotte ist intelligent und es ist eine Schande, dass sie nach der Schule nicht auf die Uni gegangen ist. Dabei hätte sie Medizin studieren können. Das hat sie immer gewollt.«
»Aber jung, wie sie ist, kann das doch noch kommen.«
Die Dame wollte wohl schon eine größere Portion Missfallen über ihre Hausboot-Nachbarn ausschütten, erinnerte sich aber noch rechtzeitig an ihre gute Erziehung, die ihr verbot zu klatschen. »Es liegt dahinten, das letzte Stück müssen Sie zu Fuß gehen, es gibt einen kleinen Parkplatz, wo Sie Ihren Wagen parken können.« Sie reckte den Hals. »Das Auto steht da, also ist auf jeden Fall Lotjes andere Mutter zu Hause.«
Sie lächelte höflich, trat zurück und schloss die Tür.
Ich verließ das Boot durch die Geranien hindurch, durchquerte den Vorgarten, vorbei an idyllischen Gehegen mit Zwergziegen, fuhr bis ans Ende der Asphaltstraße und parkte neben einem kleinen Renault. Von dort aus folgte ich einem unbefestigten Weg durch verwildertes Grün.
Die Umgebung hier war erheblich ungepflegter als die Grundstücke an der Asphaltstraße. Auf dem Uferstreifen vor den Hausbooten standen wacklige Holzschuppen, Hühnerställe und sonderbare, aus Schrott und alten Fahrrädern zusammengeschweißte Kunstwerke.
DIE LOCHS solus ähnelte einem jener vom Zahn der Zeit und dem Rost angenagten Wracks auf den weniger touristischen Grachten Amsterdams, und ebenso wie beim Anblick seiner Amsterdamer Verwandten assoziierte man damit unwillkürlich Verzweiflung, Sozialhilfe und Razzien der Kollegen von der Drogenfahndung.
Auf dem Achterdeck saß eine Frau auf einem alten, in der Sonne spröde gewordenen Plastikgartenstuhl und las. Die einzigen Geräusche kamen vom Hausboot weiter hinten, wo die blonde Dame ihre Reise durch die Etüden Czernys wieder aufgenommen hatte. Die übrigen Hausbootbewohner verdienten ihre Brötchen in Büros und Fabriken und die Kinder waren in der Schule oder bei Albert Heijn.
»Mevrouw?« Sie schien um die fünfzig zu sein. Ihren Namen kannte ich nicht. Die andere Mutter.
Sie drehte den Kopf. Ein knochiges Gesicht, dünne Nase, gewölbte Lippen, ein wenig hervortretende Augen. Sie rauchte einen Zigarillo.
»Mein Name ist Max Winter. Ist es Ihnen recht, wenn ich an Bord komme?«
»Was wollen Sie?«
»Eigentlich wollte ich Charlotte Bonnette sprechen, es geht um die Forderung des Kindsteils am Erbe Otto Runings. Ich wurde gebeten,
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