Charlotte
standen einander gegenüber. Nach einer Weile sagte sie: »Als Psychologin würde ich jetzt anmerken, dass Sie bewusst oder unbewusst die andere Frage in eine Metapher zu kleiden versuchen.«
»Ob diese Stieftochter echt oder eine Fälschung ist?«
»Sie ist nicht echt. Würden Sie das für mich beweisen?«
»Nein.«
Sie war brüskiert. »In diesem Fall …«
Sie verstand mich nicht. »Ein Rechtsanwalt mag dazu bereit sein, derart zu argumentieren, dass der Prozess für seinen Mandanten positiv ausgeht, egal ob schuldig oder unschuldig«, sagte ich. »Von mir können Sie nur erwarten, dass ich versuche, die Wahrheit herauszufinden, auch wenn sie unangenehm ist. Und noch etwas.« Ich zeigte mit einer Geste auf den Meulendijk-Vertrag auf dem Tisch. »Was Sie mit meinem Bericht anfangen, ist Ihre Sache, aber ich habe meine eigene kleine Privatklausel, was die Sache mit dem Schweigen unter allen Umständen angeht. Ich beteilige mich nämlich nicht an der Verdunklung von Straftaten.«
Sie schaute mich eine Weile mit ihren graublauen Augen an. Dann erschien ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht, und sie sagte: »Darüber mache ich mir keine großen Sorgen. Ich glaube, hier handelt es sich lediglich um einen Erpressungsversuch.«
»War Ihre Ehe glücklich?«
»Ja. Wir waren eine glückliche Familie und führten eine gute Ehe, und ich vermisse ihn ganz furchtbar.«
Ich drehte mich zu den Terrassentüren um, schaute ein Weilchen hinaus und sagte: »Ich werde das für Sie aufklären, Mevrouw. Wurde von Ihrer Seite schon auf die Forderung reagiert?«
»Mein Anwalt hat ein Schreiben aufgesetzt, mit dem wir Zeit zu gewinnen versuchen.« Sie warf einen Blick auf die Standuhr. »Wollen Sie van Loon heute noch sprechen? Bestimmt ist er noch in der Firma, ich kann ihn anrufen, wenn Sie möchten.«
»Ja, bitte.«
Ich schaute ihr nach, als sie zum Büfett ging und telefonierte. Sie hatte sich vorbildlich unter Kontrolle. Vielleicht war sie eine jener wohl erzogenen Damen, die gar nicht auf die Idee kamen, dass ihr Ehemann sie hintergangen haben könnte. In dem Fall gehörte sie einer aussterbenden Art an.
Der Firmensitz befand sich in einem großen Bürogebäude in einem Industriegebiet außerhalb von Vianen. Es war fünf Uhr nachmittags und die Straßen füllten sich mit Fahrzeugen, die von Fabrikgeländen und Firmenparkplätzen strömten. Ich schwamm durch große offen stehende Tore gegen den Strom. Eine Einfahrt führte in eine Tiefgarage, doch es waren auch noch genügend Parkplätze rund um das Gebäude frei.
Ich betrat den Eingangsflur. Briefkästen und Namensschilder. Hinter der geschlossenen Glastür blickte ich in eine menschenleere Halle mit Treppen, Aufzügen und mannshohen Birkenfeigen in halbierten Holzfässern. Ich drückte auf den Klingelknopf neben einer dunkelbraunen Glasplatte mit der Aufschrift Runing Hotelverwaltung AG.
Die Stimme einer Frau kam durch das kleine Gitter. »Ja?«
»Max Winter. Ich habe einen Termin mit Meneer van Loon.«
»Vierter Stock.« Die Tür öffnete sich mit einem Klicken. Einer der Aufzüge wartete im Erdgeschoss. Oben empfing mich eine Frau mit einer Hornbrille in ihrem mütterlichen Gesicht. Sie trug ein schwarzes Kleid, als sei sie noch in Trauer.
»Meneer van Loon erwartet Sie.«
Ich folgte ihr an Türen vorbei. Einige Wände waren aus Glas, und ich sah verlassene Büros, Computer, Plakate von Hotels. »Sind Sie die Sekretärin von Meneer van Loon?«
»Ja, jetzt schon. Vorher habe ich für Meneer Runing gearbeitet.«
»Schon lange?«
»Seit fast zehn Jahren.«
Gewiss hatte sie ihre Vorgängerin nicht gekannt, die vor achtzehn Jahren hier gewesen war, und vielleicht wusste sie ohnehin von nichts. Ich konnte schwerlich weiterfragen, ohne schon gleich zu Anfang gegen Meulendijks Klauseln zu verstoßen. Sie klopfte an eine Tür am Ende des Ganges.
Ein älterer Mann saß mit dem Rücken zu uns an einem massiven Schreibtisch und blickte über Gebäude, Bäume und ein Stückchen Fluss. Er drehte seinen Stuhl und erhob sich.
»Meneer Winter«, sagte er. »Ich bin Hennie van Loon.« Er begrüßte mich mit einem kräftigen Händedruck und nahm ein Blatt Papier mit Notizen vom Schreibtisch.
»Brauchen Sie mich noch, Meneer?«, fragte die Sekretärin.
»Nein, Wilma, gehen Sie ruhig nach Hause, ich schließe nachher ab.«
Die Sekretärin ging und van Loon lächelte in Richtung Tür. »Wenn wir allein sind, nennt sie mich einfach Hennie, aber sie ist noch eine
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