Charlotte
Kopf, doch ich erkannte auch eine Art trotzigen Unwillen, den schmutzigen Seiten des Lebens ins Auge zu blicken. In ihrer Beziehung zu George war so etwas wie Betrug, Untreue und Lügen undenkbar. Bis jetzt jedenfalls.
»Diese Freundin war Leonoor Brasma«, erklärte ich. »Und sie hat mir etwas ganz anderes erzählt.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Natürlich.«
»Was behauptet sie denn?«
Ich schaute ihr in die Augen, die um einiges weniger selbstsicher blickten als zu Beginn unserer Unterhaltung. »Sie behauptet, dass Ihr Vater regelmäßig in die Wohnung kam und auch dort übernachtete. Leonoor ging dann meist ins Kino, um den beiden nicht im Weg zu sein.«
Jennifer wurde wütend. Ihr Blick verursachte mir Schuldgefühle, als würde ich schlecht über den Verstorbenen reden. »Glauben Sie das etwa? Wo die beiden doch ein lesbisches Verhältnis hatten?«
»Ich glaube im Augenblick noch überhaupt nichts«, sagte ich. »Aber es könnte sein, dass Leonoor schon zu einem viel früheren Zeitpunkt erkannt hatte, dass die Beziehung ihrer Freundin mit Ihrem Vater keine Zukunft hatte. Und dass sie gerne zusammen mit Elisabeth ein Kind wollte. Das kommt öfter vor.«
»Das weiß ich selbst.«
»Sie sagt, dass Ihr Vater Elisabeth weiterhin besuchte, auch als sie schwanger war. Ich glaube, dass die beiden Frauen ihre Beziehung geheim hielten, jedenfalls Ihrem Vater gegenüber. Leonoor sagt, Ihr Vater sei mit zum Rathaus gegangen, um Charlotte anzumelden, und er habe Elisabeth noch etwa ein Jahr danach weiterhin getroffen. Er habe sie finanziell unterstützt und soll sogar Fotos von dem Baby gemacht haben.«
Jennifer erbleichte. »Diese Frau lügt! Mein Vater ist ihr nie begegnet und er ist nie in dieser Wohnung gewesen!«
»Aber die Papiere geben ihr Recht.«
»Eine Vaterschaftsanerkennung ist gar nicht möglich, wenn man mit einer anderen Frau verheiratet ist.«
»Leonoor meint, es gelang ihm, seine Ehe zu verschweigen. Haben Sie jemals Fotos von einem unbekannten Baby gesehen?«
»Nein.«
»Die Polizei hat seine Papiere durchsucht, aber auf so etwas natürlich nicht geachtet. Könnten Sie noch einmal nachschauen?«
»Ich komme erst in zwei Wochen wieder zurück. Und Heleen können Sie nicht darum bitten. Diese Geschichte würde sie todunglücklich machen. Werden Sie es ihr erzählen?«
»Noch bin ich mit meinen Ermittlungen nicht fertig.«
»Ich kann das einfach nicht glauben.« Sie wurde stiller. »Das ist doch ganz und gar … Er kann mich nicht so zum Narren gehalten haben, es ist, als redeten Sie von einem völlig Fremden.«
Genauso wenig wie die These, dass Runing aus Rache erschossen wurde, zu ihrem Vater, dem ehrlichen Geschäftsmann, passen konnte, dachte ich zynisch. Was wussten Kinder von ihren Vätern?
Ich sah die Reflexion ihres Gesichts in der Fensterscheibe. »Mein Vater hat mir erzählt, dass sein Name auf der Kopie der Geburtsurkunde stand, die Charlotte bei sich hatte«, sagte sie. »Er war der Meinung, die Urkunde müsse irgendwie gefälscht worden sein.«
Sie wandte sich ab, als sie bemerkte, dass ich sie betrachtete. »Das Original ist identisch, und außerdem gibt es die Vaterschaftsanerkennung«, sagte ich.
Stur schüttelte sie den Kopf. »Dann muss die auch gefälscht sein. Die einzigen Kinder, die er je beim Standesamt angemeldet hat, sind Lily und ich, und zwar beim Standesamt in Culemborg. Er hat keine anderen Kinder, er hätte nicht einmal gewusst, wo in Utrecht das Rathaus ist.«
»Das wäre achtzehn Jahre später schwer zu beweisen.«
»Dann will ich Sie jetzt nicht länger aufhalten.« Sie schaute auf die Uhr und stand abrupt auf. »Ich kann Ihnen nichts weiter erzählen und wir müssen unseren Zug erwischen.«
Ich folgte ihr nach draußen, wo sie George mit einer knappen Bemerkung in Bewegung versetzte und meine Tochter unter dem Birnbaum keines Blickes mehr würdigte.
George versuchte noch, sich halbwegs höflich zu verabschieden, dankte mir hastig für den Kaffee und murmelte, ich solle meine Frau grüßen.
Jennifer stampfte bereits den Deich hinauf, ganz die wütende und verletzte Tochter. Ich hoffte für George, dass ihm nicht der ganze Urlaub verdorben war.
Ich fuhr gegen den Verkehrsstrom in Richtung Utrecht, als mein Autotelefon klingelte. Ich drückte auf den Freisprechknopf. Eine Frau sagte: »Max Winter?«
»Ja?«
»Hier ist die Kanzlei Brinkman, Delahaye, Odijk und Florax. Ich verbinde Sie mit Meneer Faber.«
Klick. »Meneer Winter, hier spricht
Weitere Kostenlose Bücher