Charlotte
weil – warum eigentlich? Weil du ihm Leid tust?«
»Aber ich tue nichts lieber, als mit Leuten zu reden und Geheimnisse zu enträtseln. Dafür kann er mich jederzeit anrufen .«
»Außerdem ist es Betrug«, fuhr Nel fort, die weiterhin ihrem eigenen Gedankengang folgte. »Das greift langsam regelrecht um sich, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, eine Vorschusspauschale, du meine Güte! Die denken sich wahrscheinlich: Ah, eine steinreiche Witwe, die findet das bestimmt normal, dass sie zuerst zehntausend Euro berappen muss, bevor du dich aus deinem Sessel erhebst.«
Nels Mutter war Mitglied im Kirchenchor, das kriegte man nie mehr aus ihr raus. »Ich rechne meine Stunden ab, und was übrig bleibt, schicke ich wieder zurück, okay?«, versprach ich.
Der feine Sprühregen von Sommersprossen um ihre Nase kräuselte sich, als röche sie etwas Ekliges. »Eine nicht erstattungsfähige Vorschusspauschale«, sagte sie.
Wir grinsten beide. Das Telefon läutete. Nel saß direkt daneben. »Nel van Doorn.«
Sie lauschte und warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Ja, das ist auch die Nummer der Firma Winter. Ich gebe Ihnen den Chef persönlich.« Sie hielt mir den Hörer hin. »Jennifer Runing?«
Die Stimme der Tochter klang wie eine kräftige Meeresbrise. »Meneer Winter, ich habe Ihre Telefonnummer von Meneer van Loon. Er hat mir erklärt, dass Sie Ermittlungen durchführen und auch mit mir reden möchten. Das Problem ist allerdings, dass ich morgen nach Montpellier fahre.«
»Wann sind Sie wieder zurück?«
»Wir verbinden zwei Wochen Urlaub mit dem Aufenthalt, aber wenn es dringend ist, ginge es morgen früh.«
Ich hatte vorgehabt, nach Utrecht zu fahren, aber die Tochter stand auch auf meiner Liste. »Wo könnten wir uns denn treffen?«, fragte ich.
»Unser Zug fährt um ein Uhr von Den Bosch ab, wir können auf dem Weg dorthin bei Ihnen vorbeikommen. Ich muss noch ein paar Sachen in Culemborg abholen, aber so gegen elf Uhr könnten wir bei Ihnen sein. Würde Ihnen das passen?«
»Wer kommt denn noch mit?«, fragte ich.
»Mein Freund George, aber ich kann ihn ruhig für eine Stunde in ein Café setzen, falls es so etwas bei Ihnen in der Nähe gibt.«
Armer George, dachte ich. »Nein, bringen Sie ihn ruhig mit«, sagte ich. »Wir können ihn auch mit einem Kaffee und der Zeitung auf die Terrasse setzen.«
Jennifer lachte kurz. »Prima«, sagte sie. »Ihre Adresse habe ich. Bis morgen also.«
Jennifer Runing war einen Meter neunzig groß und wirkte durch ihre militärische, kerzengerade Haltung, das selbstbewusst vorgereckte Kinn und die hohe weiße Stirn eher noch größer. Ihre hellbraunen Augen blickten in die Runde, als sei sie fortwährend auf der Suche nach neuen Herausforderungen. Ihr Freund, der sich einfach als George vorstellte, war einen Kopf kleiner, ein rundbrüstiger, gutmütig aussehender junger Mann in einem adretten grauen Anzug.
Nachdem wir uns alle einander vorgestellt hatten, hockte sich Jennifer neben Corries Stuhl und schob die Hand, mit der die junge Frau Hanna die Flasche gab, ein Stückchen höher. »Fünfundvierzig Grad«, sagte sie. »Das ist der günstigste Winkel, den linken Arm locker um das Baby gelegt, als würdest du ihr die Brust geben.«
Corrie errötete heftig bei dieser Vorstellung und sagte: »Sorry!«
Jennifer berührte vorsichtig Hannas Fontanelle, schaute hoch zu CyberNel und sagte: »Ein schönes Kind. Wird sie auch noch gestillt?«
»Sie kennen sich gut aus«, antwortete CyberNel.
George schaute zufrieden zu.
»Meiner Meinung nach sieht man es ihrer Haut an, wenn sie gestillt werden«, sagte Jennifer. »George meint, ich würde mir das einbilden, aber Ihre Tochter sieht jedenfalls gesund aus.«
Es klang wie eine fundierte medizinische Diagnose und Nel stand daneben und strahlte, ganz die stolze junge Mutter.
Drei Jahre Medizinstudium und Jennifer redete schon mit der Autorität eines Dr. Spöck. Neben ihr wirkte George wie ein Assistent, der die Geburtszangen anreichen durfte. Aber das konnte täuschen, stille Wasser …
»Wir wollen beide unseren Facharzt für Pädiatrie machen«, erklärte George und übersetzte den Ausdruck mit einem freundlichen Nicken für Corrie, die sich große Mühe gab mit dem richtigen Winkel. »Wir wollen Kinderärzte werden.«
»Geht es bei der Konferenz in Montpellier um etwas zu diesem Thema?«, fragte ich.
»Nein, um Tropenkrankheiten.« Jennifer richtete sich auf. Sie überragte uns alle. »Nach unserer Zeit
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