Charlotte
arme Kind«, und schien einige Sekunden mit widersprüchlichen Gefühlen zu kämpfen. Ich hatte keine Ahnung, wen sie mit »armes Kind« meinte. Sie selbst musste etwas über fünfzig sein. Sie hatte ein intelligentes Gesicht mit einem ausgeprägten Kinn und einen recht flotten Kurzhaarschnitt, durch den sich erst wenige graue Strähnen zogen. Sie trug die Damenversion der Goldrandbrille Professor Hesselheims, die ihr dieselbe Aura von Sachverstand und Autorität verlieh.
»Lebte sie immer noch mit Leonoor Brasma zusammen?«, fragte sie nach einer Weile.
»Ja, auf einem Hausboot bei Arnheim.«
»Arbeiten Sie für sie?«
Der abweisende Ton entging mir nicht. »Nein, Mevrouw. Ich arbeite für die Witwe von Otto Runing.«
Sie erschrak. »Die Witwe?«
»Sie sehen offenbar nicht viel fern. Otto Runing ist unlängst erschossen worden. Kurz davor hat Charlotte ihn mit der Mitteilung aufgesucht, dass sie seine Tochter sei.«
»O mein Gott«, sagte Charlotte Catsius wieder.
»Eine Woche nach seinem Tod wurde im Namen von Charlotte eine Forderung nach dem Kindsteil am Erbe eingereicht.«
Das Blut wich ihr aus dem Gesicht. »Im Namen Elisabeths?«
»Die war einen Monat vorher ertrunken.«
Sie suchte Halt am Türrahmen. »Du lieber Himmel«, murmelte sie verstört. Sie schüttelte den Kopf, holte tief Luft. »Wie sind Sie auf mich gekommen?«
»Ihre junge Namensvetterin erklärte mir, sie sei nach einer Freundin ihrer Mutter genannt worden, die in Utrecht im selben Stockwerk wohnte. Ihre Mutter hat ihr das erzählt. Ich hatte den Eindruck, es könnte von Bedeutung sein, mit Ihnen zu reden, vor allem weil Leonoor behauptete, sie und Elisabeth hätten den Namen Charlotte willkürlich gewählt beziehungsweise aus einem Vornamenbuch herausgesucht. Überhaupt habe ich bisher ganz unterschiedliche Geschichten zu hören bekommen.«
Ich sah, wie sich nacheinander verschiedene Gefühle auf ihrem Gesicht widerspiegelten, von Schrecken und Abneigung bis zu Schuld und Mitleid und dazu eine derartige Aufregung, dass ich Angst hatte, sie würde anfangen zu hyperventilieren.
Sprenger erschien hinter ihr und fragte: »Gibt es ein Problem, Lotte?«
Wieder erschrak sie, diesmal vor ihm. »Nein, ich äh …« Sie schaute mich an, noch immer ganz durcheinander. »Kommen Sie doch herein.«
Sie drehte sich um und verschwand in der Wohnung. Sprenger sagte mit vorwurfsvollem Blick: »Sie regen sie auf.«
»Das tut mir Leid.«
Er nickte und brachte mich höflich in ein geräumiges Wohnzimmer. Charlotte war nirgends zu sehen. »Sie kocht Kaffee«, erklärte er. »Setzen Sie sich.«
Er ließ mich allein. Es war ein angenehmer Raum mit zahlreichen Büchern, bequemen Möbeln, einer hochwertigen Musikanlage und einem großen Fenster nach Südwesten hin. Die Sonne war hinter anderen Wohnhäusern und hohen Bäumen am Rande der Stadt verschwunden.
Eine Seitentür führte auf einen Balkon hinaus und eine andere vermutlich in die Küche. Ich stand vor dem Bücherschrank, als Sprenger zurückkehrte.
»Ich bin pensionierter Historiker«, sagte er, als wolle er eine Erklärung zu den Büchern abgeben. »Charlotte kommt gleich. Sie muss sich kurz sammeln. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich bei Ihrem Gespräch gerne dabei sein.«
»Natürlich, kein Problem.«
»Ich bin eben interessiert an Geschichte.«
»Diese liegt noch nicht so lange zurück wie die Schlacht bei Nieuwpoort.«
Er lächelte nachsichtig. »Ich liebe Charlotte sehr. Ich weiß nicht, was sich in ihrer Vergangenheit abgespielt hat, aber ich sehe, dass Ihre Ankunft sie erschreckt. Könnte es Schwierigkeiten für sie geben?«
Die Frage erstaunte mich. »Auf den Gedanken bin ich gar nicht gekommen.«
Sprenger schien das nicht zu beruhigen. Seine Reaktion war mir insgesamt ein Rätsel. Wir setzten uns einander gegenüber in die Polstersessel. Ich stand wieder auf, als Charlotte Catsius mit Kaffee hereinkam. Sprenger nahm ihr sofort das Tablett ab. »Lass mich das nur machen. Erzähl du in aller Ruhe.« Er stellte das Tablett behutsam auf den niedrigen Tisch und begann mit steifen Bewegungen einzuschenken. Er schien mindestens zehn Jahre älter zu sein als Charlotte.
Charlotte wählte einen Sessel schräg gegenüber von mir, mit dem Rücken zum Fenster und dem Gesicht im Schatten, wie es die Leute oft tun, wenn sie Angst haben, man verdächtige sie wegen irgendetwas, oder wenn sie etwas zu verbergen haben. Es wurde allmählich dunkel in der Wohnung, doch keiner von beiden
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