Charlottes Traumpferd
die Jugendlichen noch immer, aber sie meinten nicht mich, sondern ihren Kumpel Thierry, der jetzt irgendwie seinen Ruf retten musste. Mit dem »Mehlsack« hatte er sich eben ein schönes Eigentor geschossen!
»Kennst du diese Leute?«, fragte Papa mich erstaunt.
»Nur einen.« Ich wies mit einem Kopfnicken auf Thierry, der eben wütend sein Surfbrett startklar machte. »Das ist der Neffe von Nicolas und Véronique.«
»Warum ist er so unfreundlich zu dir?«, wollte Cathrin wissen.
»Weil ich ihn beim Wettrennen geschlagen habe und er danach sogar noch vom Pferd gefallen ist«, erklärte ich.
»Er sieht voll cool aus«, stellte Cathrin fest und beobachtete Thierry, der sich nun weitaus gekonnter als Phil und Olivier auf das Surfbrett schwang und davonrauschte.
»Das täuscht«, versicherte ich meiner jüngeren Schwester. »Er ist ein ganz ekliger Kerl.«
Meine Laune hatte sich allerdings bedeutend gebessert.Thierry hatte seine Retourkutsche bekommen und würde sich noch einige Male von seinen Freunden aufziehen lassen müssen. Ich war gespannt, wie er sich mir gegenüber verhalten würde, wenn ich ihm das nächste Mal im Club begegnete.
Am Abend grillten wir zusammen mit Couasnons und anderen deutschen und französischen Freunden meiner Eltern bei uns vor dem Haus. Wir spielten noch ein paar Runden Canasta und Phil, Cathrin und ich gingen später zusammen mit Olivier und Hélène an die Klippen. Dort saÃen wir auf den Felsen, die noch immer die Wärme der Sonne ausströmten, sahen zu, wie die Sonne hinter dem Horizont im Meer versank, und lauschten dem Rauschen der Brandung.
Als wir später den Strand entlangschlenderten, huschte der Strahl des Leuchtturms von der Ãle du Pilier immer wieder über das Meer und den Strand. Der Sand war weich und fein wie Puderzucker zwischen den Zehen. In den Dünen zirpten die Grillen und in den Pinien in der Bucht rief eine Eule. Die Sichel des Mondes war nun klar und gelb. Am Zeltplatz der Ferienkolonie trennten sich unsere Wege: Olivier und Hélène bogen links in die Rue du Moulin Rouge ein, Phil, Cathrin und ich hatten nur noch fünfhundert Meter StraÃe vor uns. Der schöne Abend hatte sogar meinen groÃen Bruder, der sonst dauernd meckerte, weil er seine Kumpels, seinen Computer und sein Moped vermisste, friedlich gestimmt und wir waren einhellig der Meinung, dass Noirmoutier die schönste Insel der Welt war. Ich dachte flüchtig an den Reitstall, an Dorothee und Inga, beidenen ich mich nicht ein einziges Mal gemeldet hatte, doch viel aufregender war der Gedanke an die morgige Reitstunde mit Won Da Pie!
Der Schweià rann mir in die Augen, meine Arme schmerzten und die Innenseiten meiner Oberschenkel und Knie fühlten sich an wie rohes Fleisch. Die übergeschlagenen Steigbügel klirrten links und rechts des Sattels. Bei jedem Trabtritt von Won Da Pie bekam ich einen unsanften StoÃ, der mir durch das Rückgrat direkt ins Gehirn zu schieÃen schien.
Das halte ich nicht mehr lange durch, dachte ich, gleich falle ich runter. Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr!
»Und jetzt: leichttraben!«, kommandierte Nicolas und beobachtete mich mit kritischem Blick.
Auch das noch! Leichttraben ohne Steigbügel auf einem Pferd wie ein Pulverfass! Won Da Pie wurde immer schneller, je unsanfter ich ihm in den Rücken plumpste. Das wollte er nicht! Er wollte fein geritten werden. Aber ich war wirklich am Ende meiner Kraft. Seit knapp zwanzig Minuten gab mir Nicolas unerbittlich einen Befehl nach dem anderen. Sitz gerade, Hände tief, locker sitzen, Kopf hoch, Bein lang, Absatz tief, gerade sitzen! Zieh nicht die Schultern hoch â locker sitzen! Locker aus der Hüfte mitschwingen! Bein lang, Knie zu, Absatz tief, Absatz tief, Absatz tief! Ja, wie denn das bloÃ? Wenn ich die Knie zumachte, zog ich automatisch mein Bein und den Absatz hoch!
»Charlotte!«, rief Nicolas. »Jetzt setz dich auf dein Hinterteil und fall um Gottes willen nicht immer nach vorne!Tief sitzen und ruhig mit der Hand! Warum fuchtelst du so mit den Fäusten herum?«
Zu Hause, in der Abteilung, war das Reiten doch etwas ganz anderes! Der Reitlehrer schaute nach sieben, acht oder zehn Reitern, da konnte man zwischendurch schon mal pfuschen und krumm im Sattel sitzen oder einfach leichttraben, wenn man aussitzen sollte. Die meisten Schulpferde waren bessere Schaukelpferde,
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