Charlottes Traumpferd
ist«, sagte Nicolas. »Du darfst ihm keinen Ungehorsam durchgehen lassen. Geduld, Geduld und nochmals Geduld. Ohne Einfühlungsvermögen und Konsequenz steigst du besser ab und fährst Fahrrad.«
Das hatte er mir heute sicher schon zehn Mal gesagt. Ichbiss die Zähne zusammen und ritt weiter. Won Da Pie wurde so schnell nicht müde. Eine Dreiviertelstunde Dressurarbeit war gar nichts für ihn! Ich galoppierte und galoppierte, übte Paraden und Ãbergänge und das Angaloppieren aus dem Schritt ohne Bocksprung. Ich sah meine Familie mit bewundernden Blicken am Rande des Reitplatzes stehen und sonnte mich in ihrer Anerkennung. Vielleicht war ich einen Moment zu nachlässig gewesen, auf jeden Fall erinnerte sich Won Da Pie urplötzlich wieder an den unsichtbaren Geist in der Ecke und schlug einen Haken kombiniert mit einem Bocksprung.
Mist!, dachte ich noch im Flug.
Zumindest gelangen mir die Stürze schon recht elegant. Papa und Mama hatten erschrocken aufgeschrien, Cathrin und Flori kicherten.
»WeiÃt du, was du falsch gemacht hast?«, fragte Nicolas, als ich Won Da Pies Zügel ergriff und mich wieder in den Sattel schwang.
Ich nickte zerknirscht. »Ich war unkonzentriert und habe nicht richtig die Schenkel drangehabt.«
»Genau.« Nicolas nickte. »Denk dran: Er ist eben ein richtiger Lausbub.«
Der Rest der Stunde lief sehr gut, und ich war zufrieden.
Meine Eltern warteten noch, bis Won Da Pie in seiner Box stand, dann packten sie mein Fahrrad in den Passat und ersparten mir so die Strampelei nach Hause.
»Wie findet ihr Won Da Pie?«, fragte ich.
»Ein wirklich schönes Tier«, sagte Mama, »obwohl ich keine Ahnung von Pferden habe. Ich finde, er ist eleganter als das Pferd, das du zuerst geritten hast.«
»Oh ja, allerdings.« Ich lächelte. »Gosse dâIrlande ist gegen ihn ein Kaltblut!«
»Dieser Nicolas ist ein netter Mann.« Papa warf mir einen amüsierten Blick im Rückspiegel zu. »Vor allen Dingen hat er dich durchschaut.«
»Wie meinst du das?«
»Er sagte, er hätte sich auf angenehme Weise in dir getäuscht«, sagte Papa. »Zu Anfang hättest du ziemlich schlecht auf dem Pferd gesessen und hattest Angst â¦Â«
»Hm.« Ich rutschte peinlich berührt hin und her. Musste er das ausgerechnet vor Cathrin und Flori sagen? In den Augen meiner jüngeren Geschwister war ich doch die Superreiterin!
»Aber«, fuhr Papa fort, »er hatte nur lobende Worte für dich. Wie fleiÃig du wärst und wie geduldig. Die meisten seiner Reitschüler in Paris wären nie mehr wiedergekommen, wenn er sie so getriezt hätte. Du hingegen hättest unwahrscheinliche Fortschritte gemacht in den letzten Wochen. Seiner Meinung nach könntest du eine wirklich gute Reiterin werden, wenn du jetzt so weiterreitest.«
»Wie soll ich das wohl machen mit einer einzigen Reitstunde in der Woche?«, murmelte ich frustriert. »Herr Kessler ist es doch völlig egal, wie ich auf dem Pferd hänge. Hauptsache, er kriegt sein Geld und fertig.«
»Aber du hast doch immer gesagt, er wäre so ein toller Reitlehrer«, mischte Cathrin sich ein.
»Hab ich ja auch gedacht«, erwiderte ich bitter. »Aber jetzt weià ich es besser. Bei Nicolas habe ich in zwei Wochen mehr gelernt als in drei Jahren im Reitstall. Ich habe überhaupt keine Angst mehr, weil ich jetzt weiÃ, was ich machen muss, um ein Pferd zu beherrschen. Herr Kessler hat uns so etwas nie beigebracht.«
»Du kannst aber doch sicher auch Einzelreitstunden nehmen?«, bemerkte Mama.
»Vielleicht.« Ich starrte aus dem Fenster. Wenn ich erst wieder im Reitstall in der Abteilung herumgurkte, würde ich bald genauso stumpf an den Zügeln reiÃen wie früher.
Meine Eltern wechselten einen Blick. Was sie mir erst viel später erzählten, war, dass Nicolas ihnen gesagt hatte, er hielte mich tatsächlich für ein Talent. Am meisten habe ihn beeindruckt, mit welcher Zähigkeit und Begeisterung ich jede Anstrengung in Kauf nehmen würde, um etwas zu lernen. Das war für meine Eltern, die mich anders kannten, ein überraschendes, positives Urteil über mich.
Nun waren sie beinahe um, die vier Wochen Frankreich, die mir erst so endlos lang erschienen waren. Wie herrlich war diese Zeit gewesen! Ich hatte das Gefühl, als sei ein halbes Jahr vergangen. Schuldbewusst dachte ich
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