Charlottes Traumpferd
manchmal an Gento. Ich hatte ihn über Won Da Pie ganz vergessen und konnte kaum noch verstehen, dass ich wegen eines Pferdes, das ich noch nicht einmal hatte reiten dürfen, so verzweifelt gewesen war.
So viel hatte ich in diesen vier Wochen über Pferde und das Reiten gelernt! Ich fühlte mich auf dem Pferderücken wie zu Hause, und ich schreckte nicht mehr davor zurück, temperamentvolle und sensible Pferde wie Hirondelle oder Linotte zu reiten. Sogar Thierry hatte ich zum Schweigen gebracht. Mit Won Da Pie und Gosse dâIrlande war ich gesprungen, Steilsprünge, Oxer und Triplebarren. Auch im Gelände fühlte ich mich sehr viel sicherer als zu Beginn der Ferien. Das verdankte ich Nicolas und natürlich Won Da Pie, dem tollsten Pferd, das ich jemals geritten hatte. Ich versuchte, mich auf den Ausritt zu freuen und nicht an den Abschied zu denken.
»Du hast Post«, schreckte mich Phil aus meinen Gedanken.
»Tatsächlich?« Ich betrachtete erstaunt den dicken Briefumschlag. Er war von Dorothee. Kurz meldete sich mein schlechtes Gewissen. Ich hatte ihr nicht ein einziges Mal geschrieben!
Neugierig riss ich den Umschlag auf und überflog die zehn eng beschriebenen Seiten. Meine Freundin berichtete mir über die Ereignisse im Reitstall. Freudels hatten ihren alten Sollux auf die Koppel gebracht, Natimo hatte einen Sehnenschaden und Gentos Box war noch immer frei. Dann schrieb sie vom Reitabzeichenlehrgang. Sie hatte das Reitabzeichen bestanden, im Springen sogar mit 8,5 als Beste von allen. Inga hatte sich schon bei der ersten Springstunde den Arm gebrochen, deshalb hatte sie an dem Lehrgang nicht mehr teilnehmen können. Ich war überrascht, dass ich weder neidisch auf Dorothee war noch über Ingas Missgeschick nachdachte. Eigentlich war es mir ganz egal.
Um vier Uhr klemmte ich einen ganzen Kasten mit Möhren und Ãpfeln auf den Gepäckträger des Fahrrads und radelte ein allerletztes Mal zum Club. Da Nicolas mittlerweile sicher war, dass ich Won Da Pie problemlos beherrschte, hatte er mir erlaubt, den braunen Wallach bei meinem letzten Ausritt ans Meer zu reiten. Er war mit Rémy, Cécile und Sophie gestern Abend mit dem Pferdetransporter in die Normandie gefahren und würde heute erst spät zurückkommen. Den ganzen Tag hatte die Sonne vom Himmel gebrannt, aber die angenehme Brise vom Meer her, die die Hitze erträglich machte, war abgeflaut. Kein Lufthauch regte sich, die Sonne stand wie eine fahle Scheibe am bleigrauenHimmel. Immer wieder gerieten mir aufdringliche Mücken in die Augen.
Heute Morgen hatte mir Véronique eine Stunde Unterricht auf Hélice gegeben. Ich war sehr stolz, dass ich Nicolasâ bestes Pferd hatte reiten dürfen. Diese letzte Reitstunde wurde eine wirkliche Belohnung für die Quälerei der vergangenen beiden Wochen gewesen: Hélice war ein Traum von einem Pferd. Mit ihm ritt ich die ersten fliegenden Galoppwechsel meines Lebens, die ersten Traversalen und einen Mitteltrab, von dem mir schwindelig wurde. Das konnte Won Da Pie auch alles lernen. Ich seufzte. Allerdings war es mir nicht vergönnt, das zu erleben. Heute würde ich das letzte Mal auf Won Da Pie sitzen, ein letztes Mal seinen schwungvollen Galopp genieÃen und seine weiche Nase fühlen! Schon morgen musste ich nach Deutschland zurückkehren. Und alles, was dort auf mich wartete, waren die Schule und der Reitstall mit einer einzigen Reitstunde pro Woche. Was blieb, war einzig und allein die Erinnerung an den wohl tollsten Sommer meines Lebens.
Won Da Pie wieherte mir laut entgegen, als ich mit dem Kasten Futter unter dem Arm durch den Paddock ging. Ich betrat seine Box und gab ihm ein paar Möhren.
»Ach, Won Da Pie!« Ich umarmte seinen kräftigen Hals und schmiegte mein Gesicht an sein weiches Fell. »Ich werde dich so sehr vermissen! Hoffentlich geht es dir immer gut â¦Â«
Er wandte sich mir zu und fuhr mir mit seiner Schnauze durchs Gesicht. Da war es um mich geschehen und ich begann zu weinen. Ich wollte nicht nach Hause! Ich verfluchtedie Tatsache, dass ich noch nicht erwachsen war. Dann wäre ich einfach hiergeblieben. Nie mehr Mathe und nie mehr Physik! Im nächsten Schuljahr kam auch noch Chemie dazu! Wie verlockend schien es dagegen, den ganzen Tag im Pferdestall verbringen zu können!
»Charlotte?« Véroniques Stimme riss mich aus meinem Trübsinn.
Rasch wischte ich mir die Tränen aus
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