Charlottes Traumpferd
als ich meinen Fuà in den Steigbügel setzte und mich in den Sattel schwang. Er wieherte wild und drehte sich so heftig um die eigene Achse, dass ich fast wieder heruntergefallen wäre. Mein Herz klopfte wie verrückt. Won Da Pie wollte nicht alleine weg. Er wieherte nach den anderen Pferden.
»Komm schon!,« rief ich und presste meine Schenkel an seinen Bauch. »Bitte, Won Da Pie!«
Iseult lag unbeweglich im brackigen Wasser, Véronique kauerte schluchzend neben dem Pferd und streichelte das Gesicht der Stute.
Als die ersten schweren Tropfen vom Himmel fielen, entschied sich Won Da Pie dazu, mir zu gehorchen.
Zuerst schlug ich den Weg zur chèvrerie ein, um von dort aus zu telefonieren, aber dann fiel mir ein, dass auf dieser Seite des Geländes ein hoher Maschendrahtzaun den Zugang versperrte. Ein Blitz zuckte, gleich darauf folgte ein lauter Donner. Gewitter waren auf Noirmoutier immer besonders heftig.
Won Da Pie legte die Ohren an und scheute.
»Ruhig bleiben«, sagte ich mehr zu mir als zu meinem Pferd, »ganz ruhig. Es passiert schon nichts.«
Was sollte ich tun? Der Weg zum Club war zu weit, auÃerdem war niemand dort und ich wusste weder die Telefonnummer von einem Tierarzt noch von einem Arzt.
Papa und Mama!
Das war es! Ich musste zu uns nach Hause reiten!
Ich presste die Knie an den Sattel und bog an der nächsten Wegkreuzung nach links ab. Nun öffnete der Himmel seine Schleusen, ein gewaltiger Gewitterregen rauschte vom nachtschwarzen Himmel und verwandelte den steinharten Boden in Sekundenschnelle in einen glitschigen Morast. Blitze zuckten, Donner krachten unablässig. Ich kniff die Augen zusammen und fasste die Zügel fester, doch Won Da Pie schien auch so begriffen zu haben, um was es ging, denn er galoppierte gehorsam weiter.
»Schneller, Won Da Pie!«, rief ich und duckte mich über seinen Hals. »Lauf! Lauf!«
Gleich da vorne begann der Weg, der direkt hinter den Dünen verlief, aber plötzlich tat sich vor uns ein reiÃender Bach auf. Der Gewitterregen hatte den ausgetrockneten Graben zu einem düsteren, etwa zwei Meter breiten und schnell flieÃenden Gewässer anschwellen lassen. Wir mussten auf die andere Seite gelangen, egal wie!
Ich konnte kaum noch etwas sehen vor lauter Regen. Won Da Pie zögerte keine Sekunde. Ich gab ihm den Kopf frei, er streckte sich, und wir flogen durch die Luft. Auf der anderen Seite landete er sicher und galoppierte sofort weiter.
Ich hätte vor Erleichterung und Glück jubeln mögen. Was für ein Pferd! Hoffentlich begegnete uns jetzt kein Auto! Ich lieà Won Da Pie auf dem geschotterten Weg galoppieren, was das Zeug hielt. Ich hörte seinen Hufschlag hämmern, spürte seine Kraft und geballte Energie unter mir. In rasendem Galopp ging es vorbei am Zeltlager der Ferienkolonie, vorbei an den Häusern mit Namen wie »Luciole«, »Stella Maris« und »Moulin Rouge«, die ich seit Jahren kannte. Weiter, weiter!
An der Ecke, wo der Schotterweg in eine asphaltierte StraÃe mündete, kam mir ein Auto entgegen. Ich fing den entgeisterten Blick des Fahrers auf und lieà das Pferd in Trab fallen, damit es auf der nassen StraÃe nicht ausrutschte. Endlich hatte ich die Auffahrt unseres Hauses erreicht. Keuchend parierte ich Won Da Pie durch und starrte das Haus an. Es lag stockdunkel da. Beide Autos standen neben der Garage.
»Papa?«, rief ich.
Im Haus rührte sich nichts.
Wo waren sie bloÃ? Alissa hätte längst wie verrückt gebellt, wenn sie da gewesen wäre. Ich hätte vor Enttäuschung fast angefangen zu weinen. Da fiel mir ein, dass wir heute Abend zum Abschiedsessen bei Couasnons eingeladen waren. Ich wendete das Pferd und trabte durch den strömenden Regen die StraÃe hoch.
Es war nicht weit bis zum Haus unserer Freunde. Ich lenkte Won Da Pie im Schritt an den geparkten Autos vorbei und sah sie alle auf der überdachten Terrasse sitzen. Die nassen Zügel rutschten mir durch die Hände, als ich dasPferd durchparierte. Alle sprangen überrascht auf, als sie mich erblickten, und Alissa und Zora, der Hund von Couasnons, sprangen bellend auf mich zu. Won Da Pie riss erschrocken den Kopf hoch und machte einen Satz zur Seite.
»Charlotte!«, rief Mama. »Was ist passiert?«
»Véronique ist in den Salzsümpfen verunglückt!«, stieà ich hervor. »Ihr Pferd liegt in einer Saline. Ihr müsst den
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