Charlston Girl
hält mir die Packung hin.
»Danke.« Ich schlucke und nehme eins. »Das ist wirklich nett. Ich bin übrigens die Großnichte.«
Sie nickt mitfühlend. »Das ist eine schwere Zeit für Sie. Wie nimmt es die Familie auf?«
»Ach... na ja...« Ich falte das Taschentuch zusammen und überlege, was ich antworten soll. Ich kann ja nicht gut sagen: Es kümmert keinen so richtig. Onkel Bill steht sogar noch mit seinem BlackBerry draußen vor der Tür. »In dieser Zeit müssen wir füreinander da sein«, improvisiere ich schließlich.
»Das stimmt.« Die alte Dame nickt feierlich, als hätte ich etwas wirklich Weises gesagt und nicht etwas, das auf jeder zweiten Beileidskarte steht. »In dieser Zeit müssen wir füreinander da sein.« Sie nimmt meine Hände. »Ich habe jederzeit ein offenes Ohr für Sie, mein Kind. Es ist mir eine Ehre, eine von Berts Verwandten kennenzulernen.«
»Danke...«, sage ich automatisch, dann stutze ich.
Bert?
Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Tante nicht Bert hieß. Eigentlich weiß ich es genau. Sie hieß Sadie.
»Wissen Sie, Sie sehen ihm ausgesprochen ähnlich.« Die Frau betrachtet mein Gesicht.
Scheiße. Ich bin auf der falschen Beerdigung.
»Irgendwie um die Stirn herum. Und Sie haben seine Nase. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?«
»Ah... hin und wieder!«, sage ich blindlings. »Ehrlich gesagt, muss ich langsam los... äh... vielen Dank für das Taschentuch...« Eilig trete ich den Rückzug zur Tür an.
»Das ist Berts Großnichte«, höre ich die alte Dame hinter mir. »Sie ist sehr mitgenommen, die Ärmste.«
Ich stürze mich förmlich auf die helle Holztür und finde mich im Foyer wieder, lande beinah auf Mum und Dad. Sie stehen bei einer mir unbekannten Frau mit wollgrauem Haar und einem Stapel Broschüren in der Hand. »Lara! Wo warst du?« Erstaunt starrt Mum die Tür an. »Was hast du da drinnen gemacht?«
»Waren Sie bei Mr. Cox‘Trauerfeier?« Die grauhaarige Frau wirkt überrascht.
»Ich hatte mich verirrt!«, sage ich trotzig. »Ich wusste nicht, wohin ich sollte! Da müssten Hinweise an den Türen sein!«
Schweigend hebt die Frau ihre Hand und deutet auf ein Plastikschild über der Tür. »Bertram Cox - 13:30 Uhr«. Verdammt. Wieso hab ich das nicht bemerkt?
»Na, egal.« Ich versuche, meine Würde zu wahren. »Gehen wir. Damit wir noch einen Platz kriegen.«
2
Damit wir noch einen Platz kriegen. Das ist ja wohl ein Witz. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nichts derart Deprimierendes erlebt.
Okay, ich weiß, es ist eine Beerdigung. Es soll ja keine Party werden. Aber bei Berts Beerdigung waren wenigstens viele Leute und Blumen und Musik und Emotionen. Der andere Raum hatte zumindest etwas Ausstrahlung.
Dieser Raum hat nichts. Er ist kahl und kalt, mit einem geschlossenen Sarg ganz vorn und dem Namen »Sadie Lancaster« in billigen Plastikbuchstaben auf einer Tafel. Keine Blumen, kein Duft, kein Gesang. Fahrstuhlmusik leiert aus den Lautsprechern. Und es ist so gut wie leer. Nur Mum, Dad und ich auf der einen Seite, Onkel Bill, Tante Trudy und meine Cousine Diamanté auf der anderen.
Verstohlen lasse ich den Blick zu meiner Familie hinüberschweifen. Obwohl wir verwandt sind, kommen sie mir doch eher vor, als wären sie einem Promi-Magazin entsprungen. Onkel Bill lümmelt auf seinem Plastikstuhl, als gehöre ihm der Laden, und tippt auf sein BlackBerry ein. Tante Trudy blättert in Hello , liest wahrscheinlich alles über ihre Freundinnen. Sie trägt ein enges, schwarzes Kleid, das blonde Haar ist kunstvoll um ihr Gesicht herum frisiert und ihr Dekolleté noch gebräunter und eindrucksvoller als beim letzten Mal. Tante Trudy hat Onkel Bill vor zwanzig Jahren geheiratet, und ich könnte schwören, dass sie heute jünger aussieht als auf ihren Hochzeitsfotos.
Diamantés platinblondes Haar reicht ihr bis zum Hintern, und sie trägt einen Minirock mit Totenkopfmuster. Sehr geschmackvoll für eine Trauerfeier. Sie hat ihren iPod drin, tippt auf ihr Handy ein und sieht immer wieder schmollend auf ihre Uhr. Diamanté ist siebzehn und hat zwei Autos und ihr eigenes Mode-Label namens Tutus & Pearls , das Onkel Bill für sie gegründet hat. (Ich habe es mir mal im Internet angesehen. Die Kleider kosten alle vierhundert Pfund, und jeder, der eins kauft, landet namentlich auf einer speziellen Liste mit »Diamantés Besten Freunden«. Die Hälfte davon sind Promikinder. Es ist wie Facebook, nur mit Klamotten.)
»Hey, Mum«, sage ich.
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