Charmant und unwiderstehlich
dich, dein erstgeborenes Kind wegzugeben. Die beiden haben dir zu viel abverlangt.“ Melissa spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. „Leigh hätte dasselbe für mich getan. Ich bin mir ganz sicher. Natürlich wäre es mir manchmal schwer gefallen, ihnen zuzuschauen, wie sie bei ihnen aufwächst, aber…“
„Sie?“ Brad zog eine Augenbraue hoch. „Ein Mädchen? Hast du geraten? Oder ist das nur ein frommer Wunsch?“
Aufgeregt sprang Melissa auf und holte das Ultraschallbild, das gestern bei der Vorsorgeuntersuchung gemacht worden war. Sie wollte ihm unbedingt das erste Bild ihres Kindes zeigen, selbst wenn es nur ein schattiges Schwarzweißbild war, das die Ärztin ihr hatte erläutern müssen.
„Sie machen es wegen der Vorsorge. Und ich habe riesiges Glück gehabt. In der sechzehnten Woche können sie schon sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, wenn es in einer günstigen Position liegt. Das ist meine Tochter.“ Ihre Stimme klang gebrochen, und sie hatte große Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
Leigh hatte sich sehnlichst ein Mädchen gewünscht.
Auf keinen Fall wollte sie vor seinen Augen in Tränen ausbrechen. Melissa entschuldigte sich eilig und rannte aus der Küche. Auf dem Weg ins Bad erhaschte sie Leighs Blick. Es schien, als würde sie sie aus dem Spiegel im Flur anschauen. Melissa erstarrte. Urplötzlich wurde ihr der Verlust ihrer Zwillingsschwester wieder bewusst, und die Erkenntnis traf sie mit voller Wucht.
Wenn sie nicht unverwandt in das Spiegelbild hätte starren müssen, hätte der Schmerz sie ganz sicher in die Knie gezwungen. Leigh und doch nicht Leigh. Für immer gegangen, aber niemals weiter entfernt als der nächste Spiegel. Leigh würde niemals älter werden, und doch alterte sie mit jedem Tag. Ihr eigenes Spiegelbild würde Melissa jeden Tag ihres Lebens daran erinnern, das sie und ihre Schwester unzertrennlich waren. Und an den unsäglichen Verlust.
War es ihr Schicksal, immer genau das zu verlieren, was sie liebte und worauf sie vertraute?
5. KAPITEL
Mehrere Minuten waren vergangen, aber Melissa war immer noch nicht zurückgekehrt. Langsam fragte sich Brad, wohin sie so plötzlich verschwunden war. Und warum. Im Nachhinein fiel ihm auf, dass sie ziemlich aufgewühlt gewirkt hatte. Besorgt machte er sich auf die Suche nach ihr, obwohl er sich wie ein Eindringling vorkam. Er fand sie im dunklen Flur vor dem Spiegel.
Unverwandt schaute sie ihr Spiegelbild an und weinte stumme Tränen. Er trat hinter sie, merkte aber sofort, dass sie ihn überhaupt nicht wahrnahm.
„Melissa? Hey, Melissa“, flüsterte er.
Ihr Blick ging unruhig hin und her, bis sie ihn im Spiegel entdeckte. „Sieht aus wie Leigh, findest du nicht auch?“ brachte sie mit tränenerstickter Stimme hervor. „Sie war so quirlig und so lebendig. Wie kann es sein, dass sie einfach fort ist?“ Wieder fixierte sie ihr Spiegelbild. „Und trotzdem ist sie niemals fort.
Immerzu erwidert sie meinen Blick. Es ist, als ob sie mich verfolgt, und doch ist es nicht Leigh, die mich anschaut.“ Sie hielt einen Moment inne. „Leigh hat sich sehnlichst ein Mädchen gewünscht“, flüsterte sie dann. Ihre Unterlippe zitterte, und ihre Gesichtsmuskeln zuckten, als ob sie jeden Moment die Fassung verlieren würde. „Nichts war ihr wichtiger. Und jetzt… oh, mein Gott!“
„Denk dran, wie glücklich du die beiden in den letzten zwei Wochen ihres Lebens gemacht hast“, wisperte Brad und biss sich ebenfalls auf die Unterlippe, um die Tränen zurückzuhalten.
Dann fasste er sie bei den Schultern, drehte sie zu sich herum und schloss sie in die Arme, so dass sie ihr Spiegelbild nicht länger anstarren konnte. Brad wusste nicht, wie lange sie fest umschlungen im dunklen Flur gestanden hatten und leise weinten. Aber eine Weile nachdem sie ihre Arme um seine Hüften geschlungen hatte, regte sich etwas in ihm.
Plötzlich wurde ihm bewusst, wie eng sie sich an ihn schmiegte. Er hatte das Gefühl, als hätte man ihm einen gewaltigen Stromstoß mitten durchs Herz gejagt, so erregt war er. Wie perfekt ihre Kurven zu seinem Körper passten.
Verdammt noch mal, ich bin auch nicht aus Holz, fluchte er insgeheim. Und ich habe niemals behauptet, ein Heiliger zu sein.
Er schluckte schwer. Die Sache wurde ihm langsam zu heiß. Sie gehörte nicht zu der Sorte Frauen, mit denen er sich normalerweise einließ. Niemals. Und er wusste genau, dass er besser die Finger von ihr lassen sollte.
„Komm mit“, flüsterte
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