Charmant und unwiderstehlich
dass wahrscheinlich noch nicht einmal Gary sie hätte auseinander halten können. Aber es war schließlich auch sein Plan gewesen. Er hatte seine Eltern hinters Licht fuhren wollen, weil sie felsenfest glaubten, dass Leigh in Luxus und Überfluss aufgewachsen war und nicht auf einer heruntergekommenen Farm irgendwo im südlichen Maryland.
Seltsamerweise hatte Melissa sich in ihrer schicken Aufmachung irgendwie entblößt gefühlt. Aber es war noch schlimmer gekommen. Leigh und Gary hatten sich geirrt. Genau wie Melissa. Sie hatte sehr schnell eingesehen, dass es zu nichts führt, wenn man seine wahre Herkunft verschleiert, obwohl das Versteckspiel für einen kurzen Moment lang ziemlich aufregend gewesen war.
Nicht eine Sekunde lang hatte sie daran gedacht, dass manche Spiele unangenehme Strafen nach sich zogen.
Mit einem Kopfschütteln riss Melissa sich aus ihren trüben Gedanken. Warum grübelte sie immer wieder über diese Demütigung nach? Es lag alles so lange zurück, und sie war älter und viel, viel klüger geworden. Zeit, an die Zukunft zu denken. Sie und Izaak würden die alten Scheunen wieder instand setzen. Die Zukunft erschien plötzlich wieder in einem ganz anderen Licht. Und sie weigerte sich standhaft, noch länger über den dunklen Schatten am Horizont nachzudenken. Er trug den Namen Brad Costain.
Die alte Schaukel quietschte, als Melissa sie im Schatten des großen Johnny Smoker hin-und herschwingen ließ. Johnny Smoker war der Baum, der links neben dem Haus stand. Ihr Magen grummelte leise und erinnerte sie sanft daran, dass es Zeit wurde für das Abendbrot.
Und es erinnerte sie an das erstaunliche Erlebnis, das sie am Morgen geweckt hatte. Ihr Baby hatte sich bewegt, und zum ersten Mal hatte sie die zarten Regungen eines anderen Lebens in ihrem Bauch gespürt. Unwillkürlich hatte sie Leigh anrufen wollen, aber dann war es ihr schlagartig wieder eingefallen.
Sie war allein. Vollkommen allein. Ganz allein trug sie die Verantwortung dafür, das kostbare Leben in ihrem Leib auf die Welt zu bringen. Sie musste für die Zukunft des Babys sorgen und seine Gegenwart beschützen.
Sie war allein. Mit der unbekannten Welt der Schwangerschaft, den Wehen und der Entbindung.
Allein mit dem ersten Lächeln, dem ersten Lachen und den ersten Sorgen, allein mit der Freude und der Aufregung über die ersten Schritte.
Melissa seufzte auf, schloss für einen Moment die Augen und überließ sich ganz den Erinnerungen an das helle Lachen ihrer verstorbenen Schwester. In Gedanken durchlebte sie noch mal jenen wundervollen Tag, an dem Melissas Schwangerschaft bestätigt worden war. Leigh und sie hatten im Wohnzimmer auf Gary gewartet. Leigh hatte ihm ein T-Shirt mit irgendeiner dummen Aufschrift geschenkt, die verriet, dass er bald Vater sein würde. Gary hatte es eine ganze Weile angestarrt, bevor er endlich begriffen hatte. Dann hatte er einen wilden Freudenschrei ausgestoßen, hatte Leigh in die Luft gehoben und sie herumgewirbelt. Nachdem er sie wieder zu Boden gelassen hatte, war er zu Melissa gerannt und hatte sie nach Leibeskräften umarmt und gedrückt. Tränen der Dankbarkeit hatten ihm in den Augen gestanden.
Das Geräusch eines Motors und das Knirschen von Reifen auf dem Kiesweg rissen Melissa aus ihren Träumereien. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen, stand auf, ging auf die Veranda – und erstarrte zu Stein. Es schien, als sollte der Tag so enden, wie er begonnen hatte. Ärger mit Brad Costain.
Sie ging ihm erhobenen Hauptes entgegen. Standhaft ignorierte sie das Spiel der Abendsonne in seinen tiefschwarzen Haaren. „Glaubst du, dass ich mir vorhin einen Scherz erlaubt habe? Als ich den Sheriff rufen wollte, wenn du nicht verschwindest?“
„Nein. Aber das Risiko gehe ich ein, weil ich denke, dass wir die Angelegenheit in freundschaftlicher Atmosphäre klären sollten.“
„Es gibt nichts mehr zu klären.“
„Mein Fehler. Ich habe nicht nachgedacht. Ich kann mich nur damit entschuldigen, dass mich der trostlose Anblick der Farm ziemlich mitgenommen hat. Mehr, als ich mir selbst eingestehen wollte.“ Er umfasste das Haus und die Scheunen mit einer Handbewegung. „Du musst zugeben, dass ich in einer ganz anderen Welt aufgewachsen bin.“
„Das hier ist mein Zuhause. Und es wird das Zuhause meines Kindes sein. Nicht Philadelphia. Nicht Devon. Wir sind in St. Marys County in Maryland. Hier gibt es viele arme Menschen. Aber kein Richter wird mir mein Baby wegnehmen, nur weil das
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