Charons Klaue
Entreri.
Vielleicht kehre ich in einem anderen Jahrhundert nach Menzoberranzan zurück, nicht als Feind, nicht als Eroberer, nicht, um die Grundpfeiler dieser Gesellschaft, die ich einst so sehr verabscheut habe, niederzureißen.
Vielleicht werde ich zurückkehren, weil ich dann dorthin gehöre.
Davor habe ich Angst. Dass ich mein Leben vergeudet habe, dass dies alles eben doch nichts zählt, dass meine Überzeugung am Ende nur ein leeres, unerreichbares Ideal ist, die dummen Vorstellungen eines unschuldigen Kindes, das glaubte, es könnte noch mehr geben.
Drizzt Do’Urden
1
Kriegsbemalung
Drizzt war unbesorgt, als er frühmorgens in dem kleinen Lager erwachte und Dahlia nicht neben ihm lag. Er wusste, wo sie stecken würde. Deshalb legte er nur schnell den Waffengurt um und schlang Taulmaril über die Schulter, ehe er über die schmalen Waldwege und dann den steilen Hang hinauflief, wo er sich von Baum zu Baum nach oben ziehen musste. Kurz vor der Spitze des kleinen Bergs entdeckte er Dahlia, die mit dem Rücken zu ihm still in die Ferne starrte.
Trotz der Kälte – und es war bei weitem der kälteste Morgen in diesem Herbst – trug Dahlia nur ihre Decke, die sie locker um sich geschlungen hatte und die ihr auf der einen Seite von der Schulter gerutscht war. Dennoch nahm Drizzt ihre Bekleidung oder eher deren Fehlen kaum wahr, denn sein Blick galt ihrem Haar. Noch gestern Abend hatte sie es schulterlang und sehr weiblich getragen, jetzt hingegen war sie zu dem dicken schwarz-roten Zopf zurückgekehrt, der sich verführerisch um ihren zarten Hals schlängelte. Es kam ihm so vor, als ob Dahlia allein durch einen magischen Kamm eine ganz andere Person wurde.
Langsam ging er in ihre Richtung, doch dann zerbrach ein trockener Zweig unter seinen Füßen, und das leise Geräusch ließ Dahlia den Kopf wenden.
Drizzt verharrte, denn er starrte unwillkürlich das blau gepunktete Muster an, ihre Kriegsbemalung. Auch diese hatte letzte Nacht gefehlt, als ob die Elfe für Drizzts Bett ein sanfteres Erscheinungsbild wählte. Als ob Dahlias Haar und ihre Hautbemalung jeweils ihre Stimmung widerspiegelten oder …
Drizzts Augen wurden schmal. Das war kein Spiegel ihrer Gefühle, erkannte er, sondern sie umgarnte damit gezielt ihren Liebhaber, um den Drow zu manipulieren.
Denn am Vorabend hatten sie gestritten, und die temperamentvolle Dahlia hatte ihren Standpunkt mit Zopf und Kriegsbemalung sehr nachdrücklich vertreten. Sie wollte Alegni nachsetzen.
Dann aber war sie zu Drizzt gekommen, um sich zu versöhnen, und dabei war ihr Haar weicher und ihr hübsches Gesicht ohne Farbe gewesen. Sie hatten nicht mehr über Alegni gesprochen, waren aber auch nicht wütend aufeinander eingeschlafen.
Drizzt ging zu Dahlia hinüber und blickte vom Westrand des Berges in die Ferne. Viele Meilen weit weg wurde Niewinter von einer flachen Nebelschicht verhüllt, wo die kältere Luft die warme Feuchtigkeit aus dem großen Fluss nicht abziehen ließ.
»Der Nebel verbirgt viel von den Narben«, sagte Drizzt und schloss die Frau in die Arme, die auf seine Berührung nicht reagierte. »Das war einmal eine schöne Stadt, und sie wird wieder aufblühen, wenn die Tayer endgültig besiegt sind.«
»Solange die Shadovar in den Straßen und Gassen ihr Unwesen treiben?«, entgegnete Dahlia in harschem Ton.
Drizzt wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, und zog sie einfach noch fester an sich.
»Sie sind in der Stadt, bei den Siedlern, sagt Barrabas – der Mann, den du Artemis Entreri nennst«, fuhr Dahlia fort.
»Wahrscheinlich konnten sie nur deshalb dort Fuß fassen, weil Sylora Salm eine noch schlimmere Bedrohung darstellte. Sobald diese Gefahr entfällt, werden die Shadovar …«
»Die Gefahr durch die Shadovar entfällt, sobald ihr Anführer tot ist«, unterbrach ihn Dahlia kalt. »Und das wird er bald sein.«
Drizzt versuchte wieder, sie an sich zu ziehen, aber sie löste sich von ihm. Die Kriegerin trat etwas näher an die Klippe heran, wo sie die Decke neu arrangierte.
»Die Zeit spielt nicht ihm in die Hände, sondern uns«, sagte Drizzt.
Dahlia bedachte ihn mit einem strengen, scharfen Blick, den die bedrohlichen Muster ihrer Kriegsfarben noch verstärkten.
»Er wird die Wahrheit erfahren«, beharrte Drizzt. »Entreri wird ihm mitteilen, was mit Sylora Salm geschehen ist, und er wird wissen, dass wir zu ihm kommen werden. So viel hat Entreri uns verraten, als er uns erklärte, dass er versklavt ist und sich unserem
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