Chasm City
meine Leute tot, werden zerquetscht oder landen in Mauer.«
»Das hört sich ziemlich unschön an.«
»Ich dir zeigen Leute in Mauer, Mister. Du nicht mehr Witze machen. Du dir Hose voll scheißen.« Wir schwenkten weit aus, um einer anderen Rikscha auszuweichen, die uns bereits gestreift hatte. »Aber gut aufpassen – Häuser verändern am schnellsten ganz oben, ja?«
»Ich kann dir nicht folgen.«
»Häuser sind wie Bäume. Viel dicke Wurzeln, die in Boden stecken, ja?«
»Meinst du die Zuleitungen für das Baumaterial? Durch die Rohstoffe für Reparaturen und Nachzucht aus dem Muttergestein gesaugt werden?«
»Ja. Wie gesagt. Wie große Bäume. Aber auch sonst wie große Bäume. Wachsen immer nur oben. Verstanden?« Er deutete mit weiteren Gesten die Umrisse einer Pilzwolke an.
Vielleicht hatte ich tatsächlich begriffen. »Du willst sagen, die Wachstumssysteme hätten sich in den oberen Teilen der Gebäude konzentriert?«
»Ja.«
Ich nickte. »Natürlich. Die Gebäude waren so geplant, dass sie sich selbsttätig abbauen, aber auch höher werden konnten. In beiden Fällen musste am oberen Ende Material hinzugefügt oder entfernt werden. Folglich musste das Nervenzentrum der selbst replizierenden Systeme immer mit dem Gebäude aufsteigen. Die unteren Etagen brauchten nur ein Minimum an Maschinen, um zu funktionieren, Schäden und Abnutzungserscheinungen beheben und sich in regelmäßigen Abständen umgestalten zu können.«
Ob Juans Lächeln Anerkennung ausdrückte – weil ich mir das selbst zusammengereimt hatte – oder Mitleid, weil ich dafür so lange gebraucht hatte, war schwer zu sagen.
»Seuche werden von Wurzeln hinaufgetragen und treffen zuerst Spitze. Gebäude knallen oben durch. Weiter unten alles bleiben wie vorher. Wenn Seuche dort angekommen, Menschen kappen Wurzeln, lassen Gebäude verhungern. Keine Veränderung mehr.«
»Aber bis dahin hatten sich die oberen Teile bereits bis zur Unkenntlichkeit transformiert.« Ich schüttelte den Kopf. »Es muss eine schreckliche Zeit gewesen sein.«
»Und ob, Mister.«
Wir fuhren hinaus ins Tageslicht, und nun verstand ich endlich, was Juan meinte.
Fünfzehn
Wir befanden uns auf der tiefsten Ebene von Chasm City, weit unter dem Rand der Caldera. Die Straße, auf der wir fuhren, überquerte auf Pontons einen schwarzen See. Aus dem Himmel – genauer gesagt von der Kuppel viele Kilometer über unseren Köpfen – fiel leise der Regen. Ringsum standen riesige Gebäude in den Fluten, Gebäude mit glatten Seiten, die kein Ende zu nehmen schienen. Sie umgaben uns wie ein Wald und verschmolzen schließlich in der Ferne zu einer einzigen, homogenen Wand, die aussah wie eine Nebelbank. Zumindest auf den ersten sechs bis sieben Stockwerken wirkten sie wie mit Entenmuscheln verkrustet. Eine dicke Schicht von windschiefen Wohnhäusern und Märkten, untereinander durch hauchdünne Laufstege und Strickleitern verbunden, zog sich an den Wänden empor. Überall in diesen Slums brannten Feuer, und der Gestank war noch penetranter als in der Bahnhofshalle. Allerdings war es hier ein klein wenig kühler und nicht ganz so drückend, weil ständig ein leichter Wind wehte.
»Wie heißt die Gegend?«, fragte ich.
»Das ist Mulch«, sagte Juan. »Hier unten, wo Straßen sind, ist alles Mulch.«
Jetzt verstand ich. Der Mulch war weniger ein Viertel als eine Schicht der Stadt. Er umfasste etwa die ersten sechs oder sieben Stockwerke über den überfluteten Bereichen, ein Slum-Teppich, aus dem sich der große städtische Wald erhob.
Wenn ich den Kopf in den Nacken legte und am Dach der Rikscha vorbei schaute, sah ich die glatten Gebäude himmelwärts schießen, bis sie, jedenfalls aus dieser Perspektive, mindestens einen Kilometer über meinem Kopf zusammenzustoßen schienen. Über den größten Teil der Höhe hatten sie sich die Form bewahrt, die ihre Architekten einst geplant haben mussten: rechteckig, mit parallelen, jetzt dunklen Fensterreihen. Nur hin und wieder störten eine Ausbuchtung, eine schneckenförmige Wucherung die strenge Geometrie. Doch weiter oben veränderte sich das Bild aufs Schaurigste. Obwohl keine zwei Gebäude genau die gleichen Mutationen aufwiesen, gab es abstrakte Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Erscheinungen, ein einheitliches Krankheitsbild sozusagen, das ein Arzt diagnostizieren und auf ein und dieselbe Ursache hätte zurückführen können. Einige Gebäude hatten sich auf halber Höhe in der Mitte gespalten, während andere
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