Chasm City
alle höher entwickelten Maschinen versagten, hatte sich hier eine neue Nische aufgetan.
Wie hatte Quirrenbach vor noch nicht allzu langer Zeit ganz richtig bemerkt? Es gab keine Katastrophe, von der nicht auch irgendjemand profitierte.
Das galt auch für die Seuche.
Die fehlende Wand des Bahnhofsgebäudes diente als Ein- und Ausflugschneise für Volantoren (und vermutlich auch für andere Flugzeuge), Rikschas fuhren dagegen durch einen abschüssigen Betontunnel ein und aus. Hier fiel schleimige Flüssigkeit in dicken Tropfen von der Decke und rann über die feuchten Wände. Wenigstens war es kühler, und der Lärm der Bahnhofshalle blieb rasch hinter uns zurück. Nur das leise Rattern des Kettenantriebs war noch zu hören, der die Tretbewegungen des Affen auf die Räder übertrug.
»Du hier neu«, sagte Juan. »Nicht aus Ferrisville und auch nicht von Rostgürtel. Nicht einmal von Rest von System.«
Zeigte ich meine Unwissenheit so deutlich, das jedes Kind sie mir an der Nasenspitze ansah?
»Schätze, ihr habt in letzter Zeit nicht allzu viele Touristen?«
»Nicht seit schlimmer Zeit, nein.«
»Wie war das damals?«
»Weiß nicht, Mister. Ich erst zwei Jahre alt.«
Natürlich. Es war sieben Jahre her. Aus der Sicht eines Kindes fast ein ganzes Leben. Juan, Tom und die anderen Straßenkinder konnten sich wohl kaum an Chasm City vor der Seuche erinnern. Der weichzeichnende Blick des Kleinkindalters ließ diese wenigen Jahre unermesslichen Reichtums und grenzenloser Möglichkeiten rettungslos verschwimmen. Alles, was diese Kinder wussten, woran sie sich wirklich erinnerten, war die Stadt, so wie sie jetzt war: riesig und dunkel und abermals ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten – nur fand man diese Möglichkeiten jetzt im Risiko, im Verbrechen, in der Gesetzlosigkeit. Chasm City war eine Stadt für Diebe und Bettler und für all jene, die nicht von ihrer Kreditwürdigkeit lebten, sondern von ihrem Verstand.
Nur für mich war es ein Schock, mich hier wiederzufinden.
Wir begegneten anderen Rikschas, die in die Halle zurückfuhren. Ihre Seitenwände waren nass vom Regen. Nur wenige beförderten Fahrgäste, und die kauerten in ihren Regenmänteln so verdrossen auf den Sitzen, als wäre ihnen jeder andere Ort im Universum lieber gewesen als Chasm City. Ich konnte das gut verstehen. Ich war müde, mir war heiß, unter meinen Kleidern sammelte sich der Schweiß, und meine Haut war so lange nicht mit Wasser in Berührung gekommen, dass sie unerträglich kribbelte und juckte. Mein eigener Körpergeruch war mir ein Gräuel.
Was wollte ich eigentlich hier?
Ich hatte einen Mann über mehr als fünfzehn Lichtjahre in eine Stadt gejagt, die nur noch eine krankhafte Perversion ihrer selbst war. Und der Mann, den ich jagte, war nicht einmal wirklich böse – das sah sogar ich ein. Ich hasste Reivich für das, was er getan hatte, aber er hatte nicht viel anders gehandelt, als ich es unter den gleichen Umständen auch getan hätte. Er war Aristokrat, kein Mann der Waffe, aber in einem anderen Leben – wenn die Geschichte unseres Planeten einen anderen Verlauf genommen hätte – wären wir vielleicht sogar Freunde geworden. Respekt hatte ich jedenfalls auch jetzt vor ihm, wenn auch nur deshalb, weil er mich vollkommen überrascht hatte, als er die Weltraumbrücke von Nueva Valparaiso zerstörte. So viel unverfrorene Brutalität nötigte mir Bewunderung ab. Ein Mann, den ich so falsch eingeschätzt hatte, verdiente meinen Respekt.
Und doch hätte ich keine Skrupel, ihn zu töten.
»Ich glaube«, sagte Juan, »du brauchen Geschichtsunterricht, Mister.«
Ich hatte an Bord der Strelnikov nicht allzu viel erfahren, aber nach mehr Geschichte stand mir momentan nicht der Sinn. »Wenn du glaubst, ich wüsste über die Seuche nicht Bescheid…«
Vor uns wurde es ein klein wenig heller im Tunnel, ein Zeichen, dass wir bald die eigentliche Stadt erreichen würden. Das Licht hatte die gleiche karamellbraune Farbe, wie ich es schon vom Raumkoloss aus gesehen hatte: eine an sich schon trübe Helligkeit, die durch Verschmutzungen noch weiter getrübt wurde.
»Seuche schlagen zu, alle Gebäude knallen durch«, sagte Juan.
»Das hat man mir auch erzählt.«
»Dir nicht genug erzählen, Mister.« Trotz ihrer rudimentären Syntax war seine Sprache den Urlauten des Rikschafahrers vermutlich immer noch weit überlegen. »Alle Häuser verändern, blitzschnell.« Er unterstrich seine Worte mit ausdrucksvollen Gesten. »Machen
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