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Chasm City

Chasm City

Titel: Chasm City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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zu locken, dann wäre Gitta noch am Leben. Cahuella hätte noch Schlimmeres verdient.« Das Gesicht mit den leeren Augenhöhlen wandte sich mir zu, als würde Reivich durch irgendeinen Reflex gezwungen, denjenigen ›anzuschauen‹, mit dem er gerade sprach, obwohl ihm das Bild zweifellos durch eine im Sessel verborgene Kamera übermittelt wurde. »Aber Sie sind natürlich Cahuella, nicht wahr? Oder geben sie sich noch immer für jemand anderen aus?«
    »Ich gebe mich nicht für jemand anderen aus. Aber ich bin auch nicht Cahuella. Nicht mehr. Cahuella starb an dem Tag, als er Tanners Erinnerungen stahl. Was übrig blieb, ist… eine andere Person. Eine Person, die bis dahin nicht existierte.«
    Die Brauen über den leeren Augenhöhlen gingen in die Höhe. »Ein besserer Mensch?«
    »Gitta hat mir einmal eine Frage gestellt. Wie lange müsste man leben; wie viel Gutes müsste man tun, um ein Verbrechen zu sühnen, das man in jüngeren Jahren begangen hatte? Damals fand ich die Frage sehr merkwürdig, aber heute begreife ich sie. Ich glaube, sie wusste Bescheid. Sie wusste genau, wer Cahuella war; was er getan hatte. Ich kann ihre Frage nicht beantworten, auch jetzt noch nicht. Aber ich denke, ich werde es herausfinden.«
    Reivich war nicht beeindruckt. »Und das ist der Grund, weshalb Sie mit Tanner noch nicht fertig sind?«
    »Nein«, sagte ich. »Es geht auch um die Frau, die ihn begleitet. Sie heißt Amelia und gehört dem Eisbettelorden an, auch wenn sie in einer anderen Identität unterwegs sein sollte. Ich glaube, Tanner wird sie töten, sobald er keine Verwendung mehr für sie hat.«
    »Sie bringen sich selbst in Gefahr, um sie zu retten? Wie heldenhaft.«
    »Das hat nichts mit Heldentum zu tun. Es ist nur… Menschlichkeit.« Das Wort klang mir völlig fremd in den Ohren, aber ich schämte mich nicht, es auszusprechen. »Glauben Sie nicht, dass dieser Ort davon etwas mehr vertragen könnte?«
    »Sie würden ihn also töten – obwohl Sie seine Erinnerungen mit sich herumtragen? Kommt das einem Selbstmord nicht sehr nahe?«
    »Um die moralischen Fragen kümmere ich mich, wenn ich das Blut aufgewischt habe.«
    »Sie sehen die Lage mit bewundernswerter Klarheit«, sagte Reivich. »Das macht alles, was jetzt kommt, noch interessanter.«
    Ich erstarrte. »Wovon sprechen Sie?«
    »Ich sagte Ihnen doch, dass Tanner hier ist. Das war wörtlich gemeint. Er ist hier. Er genießt auf Anweisung von mir bis zu Ihrer Ankunft unsere Gastfreundschaft.«
    Ein schwarzes Rechteck teilte die Schatten hinter Reivichs Rücken, und heraus trat ein Mann, der mir zum Verwechseln ähnlich sah.

Zweiundvierzig
    Wieder juckte es mich in den Fingern; der Soldat in mir wollte nach einem Todeswerkzeug greifen. Aber es war nichts zur Hand, außerdem war mir allen großen Worten zum Trotz vollkommen klar, dass ich eines nicht tun konnte: ich war nicht fähig, Tanner Mirabel eiskalt abzuknallen. Das wäre, als würde ich mich selbst erschießen.
    Hinter Tanner trat Schwester Amelia von den Eisbettlern aus dem Dunkel ins goldene Licht. Sie trug nicht länger die Tracht der Eisbettler – sondern zweckmäßig lässige Kleidung –, aber ich erkannte sie sofort. Ihren Schneeflockenanhänger trug sie um den Hals.
    Tanner trat vor, bis er dicht hinter Reivichs Sessel stand. In seinem dunklen, fast bis zum Boden reichenden Mantel war er größer, als ich erwartet hatte – er übertraf mich um zwei bis drei Zentimeter – und er hielt sich auch anders: Großspurigkeit war nur eines der vielen Elemente, in denen sich seine Körpersprache von der meinen unterschied, obwohl wir uns äußerlich so ähnlich waren. Wir sahen nicht gerade wie Zwillinge aus, aber wir hätten Brüder sein können oder auch ein und derselbe Mann bei unterschiedlicher Beleuchtung. Durch einen anderen Schatteneinfall wurden bestimmte Persönlichkeitsmerkmale stärker betont. So bemerkte ich in Tanners Gesicht einen grausamen Zug, der mir bei mir selbst nie aufgefallen war, aber vielleicht hatte ich auch nur nie im richtigen Moment in den Spiegel gesehen.
    Amelia sprach als Erste. »Was geht hier vor? Ich verstehe gar nichts mehr.«
    »Gute Frage«, sagte Tanner und legte seine behandschuhte Hand auf die hohe, barock verschnörkelte Lehne von Reivichs Sessel. »Sehr gute Frage sogar.« Er beugte sich vor und schaute von oben in das blinde Gesicht des Mannes, den er töten wollte. »Wenn Sie Lust haben, darauf zu antworten, mein Hübscher, dann lassen Sie sich nicht

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