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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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sehen.
    »Für ein paar Tests mit nach Hause genommen?«, fragte er.
    Ich lächelte.
    »Verrücktes Huhn«, sagte er.
    »Ja.«
    »Tauschen wir?«, fragte er, ebenfalls lächelnd. Mir gefielen seine Augenfältchen. Ich stellte ihn mir beim Pokerspiel vor. Und der Umschlag, den er gleich darauf zückte, hatte tatsächlich die Maße einer Spielkarte. Drinnen fand ich eine viktorianische Pappfotografie, ein Porträt.
    »Das ist er«, sagte er, und mir fiel wieder ein, warum ich ihn mochte – dieses Lausbubenhafte. »Das ist der Mann, der Ihren Schwan in Auftrag gegeben hat.«
    Er musterte mich seltsam, und ich dachte, ja, er hat sich tatsächlich die Zeit genommen, die Notizhefte zu lesen. Er hat sie gleich zu Anfang alle gelesen.
    »Er hieß Henry Brandling«, sagte er.
    »Ach, woher wissen Sie das?«
    Wieder dieses Lächeln.
    Er konnte nicht einmal ansatzweise ahnen, wie wichtig Henry mir war. Sicher rechnete er damit, dass ich mich neugierig zeigte, doch woher hätte er wissen sollen, was es für mich bedeutete, dass mein Autor so großgewachsen und attraktiv war, dieser Mann mit einem Baby in den Armen? Es machte mich glücklich, richtete mich auf, ihn so zu sehen, seine Vornehmheit und Zärtlichkeit zu verstehen.
    »Percy«, sagte ich.
    »Henry«, korrigierte er mich. »Henry Brandling.«
    »Das Kind.«
    »Ach, über das Kind weiß ich nichts.«
    Irgendetwas an diesem Foto war merkwürdig, und ich nahm es aus der Plastikhülle, um es genauer anzusehen.
    »Das ist durchaus nichts Ungewöhnliches«, sagte Eric.
    »Woher haben Sie das?«
    Mein Besucher legte mir die flache Hand auf den Rücken. »Schlimm, nicht?«
    Erst dann verstand ich – das Kind war dem Mann von einem viktorianischen Bestatter in die Arme gelegt worden.
    »Aber das ist doch Blödsinn«, sagte ich.
    »Cat? Was um alles in der Welt ist denn jetzt schon wieder?«
    Er streckte eine Hand nach mir aus, und plötzlich fand ich ihn überhaupt nicht mehr freundlich, kein bisschen lausbubenhaft. Warum, dachte ich, willst du mich vernichten?
    »Cat?«
    »Nennen Sie mich nie wieder Cat. Nie wieder!«
    »Catherine?«
    »Gehen Sie.« Ich holte seinen Mantel, warf ihn zu ihm. Er griff nach dem blauen Würfel. Ich entriss ihn wieder seinen Händen.
    Stunden, nachdem er gegangen war, entdeckte ich auf der Rückseite das Datum und begriff, dass es sich nicht um Percy, sondern um seine Schwester Alice handelte, deren Name vom trauernden Henry Brandling in Zusammenhang mit einer Uhr erwähnt worden war.

2
    Ich begann wieder, Zeitungen zu lesen, und erfuhr, dass die Amerikaner einen Roboter hergestellt hatten, der autistische Kinder unterrichten sollte. In vielerlei Hinsicht ist er dem Menschen überlegen. Soll heißen, ein Roboter kann sich emotional nicht verausgaben; er verliert niemals die Geduld; Tränen und Wut lösen nichts bei ihm aus.
    Der Roboter heißt KayKay, keine Ahnung, warum. Er versucht nicht, irgendwelche Kabel oder sonstiges Innenleben zu verstecken. Im Bericht steht, dass ihn die Kinder umschwärmten, als er zum ersten Mal ›in einer Einrichtung‹ in Texas auftauchte. Am Ende des Tages riss ihm ein Junge mit Asperger-Syndrom die Arme ab.
    Der Journalist schien sich ein wenig zu sehr über das Armabreißen zu freuen, doch meinte die Herstellerfirma, es handle sich um eine ›Lernkurve‹. Beim nächsten öffentlichen Auftritt, über den im
Guardian
berichtet wurde, waren KayKays Arme repariert. Wenn KayKay nun weinte, taten ihm die kleinen Aspies nicht mehr ›weh‹. Und wenn er mit dem Weinen nicht aufhörte, nahmen sie das Ding in den Arm.
    Catherine wollte KayKay für sich.
    KayKay würde sich auf Rädern fortbewegen und Catherine durch die Wohnung folgen, ihr nur auf Umwegen nahe kommen und niemals in ›persönliche Bereiche‹ vordringen. KayKay würde
›uh huh‹
sagen (im Amerikanischen ein aufmunternder Laut), sobald er Catherine kommen sähe, und wenn sie fortginge, würde er
›aw‹
sagen (Amerikanisch für ›wie schade‹).
    Eric Croft musste meiner Tränen und meiner Wut überdrüssig geworden sein, dachte ich. Wer konnte ihm das verübeln? Wer würde nicht die Gesellschaft normaler Menschen vorziehen?
    Ich saß am Küchentisch und starrte auf das wogende Feld jener Zeichen, die Henry Brandlings Feder hinterlassen hatte. Befand ich mich drüber und blickte auf die Zeilen hinab, konnte ich flackernde Kerzen sehen, die tiefen Schatten des ›nicht hier‹. Die Distanz war immens, doch sah ich Henry, der mit traurigem, dunklem

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